Die Stunde der Islamisten
Durch die zerfallenen Ruinen von Mogadischu hallte Ende Februar das Donnern der Flugabwehrgeschütze. Das Knallen von Panzerfäusten und der auf Geländewagen montierten Kanonen erfüllte die Straßen.
So schwere Gefechte hatten die Bewohner der somalischen Hauptstadt, die seit 1991 keine Regierung mehr hat, seit Jahren nicht erlebt. Hunderte flohen vor den Querschlägern der meist ungeübten Milizen aus ihren Wohnvierteln, mindestens 15 starben.
Nach einer Woche hörten die Schüsse auf, doch der Kampf ist noch nicht vorbei. Auf der einen Seite:
Ein Zusammenschluss von Politikern und Geschäftsleuten, der sich "Allianz gegen den Terrorismus und für die Wiederherstellung des Friedens" nennt. Unter ihnen sind auch fünf Minister der vor mehr als einem Jahr vereidigten Übergangsregierung. Auf der anderen: Milizen der islamischen Scharia-Gerichte.
Gerichte im rechtlosen Raum
Der Konflikt zwischen den beiden Fraktionen scheint denjenigen Recht zu geben, die am Horn von Afrika einen Hort weltweit vernetzter islamistischer Gruppen vermuten: Die Scharia-Gerichte gelten vielen seit Jahren als Deckmäntel für Extremisten.
Doch für Nikolaus Grubeck, der an der Universität von Harvard zu Rechtssystemen in gescheiterten Staaten forscht, ist die Lage deutlich komplexer. "Die meisten Scharia-Gerichte in Somalia sind nicht extremistisch ausgerichtet, ihre Führer betonen ausdrücklich, dass sie mit Terroristen nichts zu tun haben wollen.”
Die traditionellen Gerichte, denen ein religiöser Führer, ein Sheikh, vorsitzt, seien nach der Flucht des Diktators Siad Barre 1991 als Antwort auf Anarchie und Gesetzlosigkeit entstanden. Weil es im regierungslosen Somalia keine Gesetzbücher gibt, war die Scharia in einer fast hundertprozentig moslemischen Gesellschaft der einzige gemeinsame Nenner.
Innerhalb ihrer jeweiligen Clans sorgten die Gerichte schnell für mehr Ordnung und Sicherheit. Vor allem einfache Somalis zollten ihnen dafür Respekt. Von drastischen Strafen, etwa dem Abhacken der Hand bei Diebstahl, sahen die Gerichte meist ab. "Wir Somalis pflegen einen toleranten Islam, solche Strafen verstoßen gegen unser traditionelles Recht”, erklärt einer der Richter.
Um in einer Stadt wie Mogadischu auch clanübergreifende Urteile fällen zu können, schlossen sich die Gerichte zudem in einem Netzwerk zusammen, zu dem auch eine bewaffnete Miliz gehört. Experten der ‘International Crisis Group’ schätzen die Zahl ihrer Soldaten auf mehrere hundert, dazu kommen die Soldaten der einzelnen Gerichte.
In Mogadischu, wo die Größe der Miliz das politische Gewicht einer Gruppe bestimmt, wurden die Scharia-Gerichte zum Machtfaktor, der nicht mehr übergangen werden konnte. "Mit ihrem wachsenden Einfluss haben sich einige Scharia-Gerichte, vor allem die konservativeren, von den Clan-Strukturen losgelöst und sind inzwischen zu einer der Parteien im Konflikt geworden”, bilanziert Grubeck, der in Mogadischu gerade zahlreiche Richter interviewt hat.
Die Dschihad-Bewegung Somalias
Einer der einflussreichsten Anführer der politisierten Scharia-Gerichte ist Hassan Dahir Aweis. Der 61-Jährige gehört zur alten Garde der überschaubaren Dschihad-Bewegung, die sich als Kämpfer gegen alle Ungläubigen versteht. Gemeinsam mit talibangeschulten Afghanistan-Veteranen baute er Anfang der 90er Jahre den militärischen Arm der 'Al-Itihaad Al-Islaami' auf – jener Organisation, die die US-Regierung nach dem 11. September 2001 auf eine schwarze Liste weltweiter Terrorgruppen setzte.
Aweis selbst ist ein gesuchter Terrorist. Doch 'Al-Itihaad', die als Widerstandsgruppe gegen das brutale Barre-Regime begonnen hatte, fand im Kampf für einen Gottesstaat bei den Somalis kaum Unterstützung. Immer wieder musste sie ihr Hauptquartier verlegen, weil benachbarte Clans keine Dschihadis in der Nähe haben wollten.
Zwei vernichtende Schläge der äthiopischen Armee gegen Lager von 'Al-Itihaad' töteten den überwiegenden Teil der Mitglieder. Ob die Gruppe heute überhaupt noch existiert, ist umstritten. Doch die überlebenden Führungspersönlichkeiten, unter ihnen Aweis, streben noch immer nach der Macht.
"‘Al-Itihaad’ hat sich von einer Organisation zu einer Idee gewandelt, die immer noch kraftvoll ist”, beschreibt ein US-Diplomat die derzeitige Lage. Aweis selber zumindest nimmt kein Blatt vor den Mund. "Wir Moslems werden die sekulare Übergangsregierung nicht unterstützen. Eine Regierung, die nicht nach dem Buch Allahs regiert, verdient keine Unterstützung.”
Neben der alten Garde hat sich in den vergangenen zwei Jahren eine neue Bewegung von Dschihadis etabliert, die von dem gerade einmal 30-jährigen Schariamilizenführer Aden Hashi Farah Ayro angeführt wird. Die Gruppe, deren Größe Beobachter noch im zweistelligen Bereich vermuten, wird mit dem Mord an vier ausländischen humanitären Helfern und dutzenden Somalis in Verbindung gebracht, die mit westlichen Geheimdiensten kollaboriert haben sollen.
Ayro, ein Protegé Aweis, soll von den Taliban ausgebildet worden sein und beste Verbindungen zum Al Qaida-Netzwerk besitzen. "Ayro stellt eine beunruhigende Verbindung zwischen Dschihadis, den Scharia-Gerichten und der 'Al-Itihaad'-Bewegung dar", bewertet 'Crisis Group'-Analyst Matthew Bryden die neue Entwicklung.
Kampf um die Macht am Horn
Im Kampf um die Macht in Somalia treten die islamistischen Gruppen derzeit mit einer Menge Selbstbewusstsein auf. Auch deshalb nehmen die Mitglieder der vierzehnten Übergangsregierung innerhalb von 15 Jahren die Auseinandersetzung ernst. Erst kürzlich überfielen die Milizen der Scharia-Gerichte ein Tonstudio, in dem Bollywood-Filme synchronisiert werden.
"Das islamische Recht verbietet Filme, Musik und Tanz", verkündete der Vorsitzende der Union der Scharia-Gerichte, Scharif Sheikh Achmed, danach. Hunderte Somalis standen noch Stunden später fassungslos vor dem zerstörten Studio: Für Brydon der Beleg für die tiefe Abneigung, die die meisten Somalis gegen Islamisten hegen.
"Das wirklich Bemerkenswerte ist doch, dass die Dschihad-Bewegung hier bislang kaum Unterstützung gefunden hat - obwohl der Boden für Islamisten hier nach konventioneller Lesart doch eigentlich fruchtbar sein müsste." Somalis wollten keinen Gottesstaat, sondern eine funktionierende Regierung.
Um den aufkeimenden Islamismus am Horn von Afrika zu bekämpfen, so Brydon, müsse der Westen sie dabei mit aller Kraft unterstützen.
Marc Engelhardt
© Qantara.de 2006
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