Der Westen schaut weg
Wenn man Regierungschef Youssef Chahed Glauben schenken will, dann wird 2018 das letzte schwere Jahr für das postrevolutionäre Tunesien sein. Der wirtschaftliche Aufschwung sei in vollem Gang, der Tourismussektor wachse endlich wieder. Die aktuellen Sparmaßnahmen und Steuerhöhungen würden vom Hauptgeldgeber Tunesiens, dem Internationalen Währungsfonds, gefordert, um das Staatsdefizit von über sechs Prozent zu verringern.
Doch viele, vor allem junge Tunesier glauben ihrem Regierungschef nicht. Sie gehen auf die Straße, demonstrieren und randalieren. Zu oft schon haben sie in den vergangen Jahren solche Durchhalteparolen gehört: noch ein halbes, ein Jahr vielleicht, allerhöchstens bis 2020 und dann können alle Tunesier die Früchte der Jasminrevolution von 2011 ernten und endlich ihren Traum von Freiheit, Würde und einem Arbeitsplatz leben. Abgesehen aber von der hart erkämpften Freiheit bleibt ein würdevolles Leben mit Beschäftigung und einem sicheren Einkommen für viel zu viele Tunesier weiterhin unerreichbar.
Ob die neuen Zugeständnisse der Regierung für arme Familien, Bedürftige und Senioren mit rund 100 Millionen Dinar (rund 33,5 Mio. Euro) die Gemüter beruhigt, bleibt abzuwarten.
Radikal neoliberal
Um seiner Probleme Herr zu werden, braucht Tunesien vor allem eines: Geld. Viel Geld. Der Internationale Währungsfonds gewährt bis 2020 Kredite in Höhe von 2,4 Milliarden Euro, fordert aber im Gegenzug, dass der Staat sich massiv aus der Wirtschaft und seiner Rolle als Arbeitgeber zurückzieht. Das jedoch hat verheerende wirtschaftliche und soziale Folgen - speziell für die Menschen im strukturschwachen, weil schon immer vernachlässigten Landesinneren.
Dabei mangelt es nicht an Alternativvorschlägen: Der Plan "Tunisia 2020" zum Beispiel, den Präsident Beji Caid Essebsi Ende November 2016 auf einer internationalen Geberkonferenz beworben hatte, versprach gute Regierungsführung, den Umbau zu einer ökologischen Wirtschaft sowie eine nachhaltige regionale Entwicklung für alle Landesteile. Projekte im Wert von 40 bis 50 Milliarden Euro wurden vorgestellt, die dem Land einen massiven und nachhaltigen Aufschwung beschert hätten.
Zugesagt wurde jedoch weniger als ein Drittel des notwendigen Geldes. Selbst Deutschland ist nur mit 300 Millionen Euro dabei, obwohl doch dessen Politiker dauernd von der Notwendigkeit der wirtschaftlichen Stabilisierung des einzigen wirklich demokratisierten Staates nach dem Arabischen Frühling reden. Noch peinlicher ist, dass bis vergangenen Juli nichts von den angekündigten Geldern in Tunesien angekommen ist, wie die tunesische Beobachtungsstelle für Wirtschaft meldet.
Die angeblichen europäischen Freunde Tunesiens lassen das Land seit Jahren im Stich. In Wirklichkeit achten sie lediglich penibel auf ihre eigenen Interessen: Sie sichern sich einen lukrativen Zugang zum tunesischen Absatz- und Arbeitsmarkt ohne wirkliche Gegenleistung. Stattdessen fordern sie von Tunesien mehr Engagement im Kampf gegen illegale Migration nach Europa. Als ob das Land nicht genug eigene Probleme hätte!
Abkehr vom ultraliberalen Wirtschaftsmodell
Angesichts dieser Heuchelei müssen die Tunesier zur Kenntnis nehmen, dass sie sich lediglich auf sich selbst verlassen können. Die Regierung muss sich endlich von ihrem seit der Unabhängigkeit 1956 verfolgten ultraliberalen Wirtschaftsmodell abwenden.
Das setzt nämlich alleine auf billige Exporte nach Europa und billigen Massentourismus für Europäer. Und investiert ausschließlich in die renditenstärkere, weil leichter zugängliche Küstenregion. Dieses Konzept ließ sich mit dem Repressionsapparat einer Diktatur lange gut durchsetzen, ist aber unvereinbar mit einer selbstbewussten Demokratie, welche die Menschen- und Arbeitnehmerrechte achtet.
Nach mehreren chaotischen und unfähigen Regierungen im Nachgang zur Revolution machte die Regierung von Youssef Chahed mit dem Kampf gegen die korrupten Nutznießer dieses Systems endlich ernst. Im vergangenen Mai ließ sie - an der Justiz vorbei - Chafik Jerraya verhaften, einen der einflussreichsten Oligarchen und engen Verbündeten von Präsident Essebsi. Seitdem tobt ein Machtkampf zwischen beiden Seiten.
Aus eigener Kraft bestehen
Die jetzigen Proteste kommen für Jerraya und Essebsi zur richtigen Zeit, denn jetzt können sie hoffen, dadurch den unbequem gewordenen Regierungschef Chahed loszuwerden. Dieser hat nur eine Chance: auf Zeit zu spielen. Um die Straße zu beruhigen, muss er schnell dafür sorgen, dass seine Sparmaßnahmen auch die Mitglieder seiner Regierung ganz persönlich treffen.
Das Wichtigste aber bleibt, dass es bei den Protesten keine weiteren Todesopfer gibt. Die Polizei setzt mit ihrem viel beachteten Hashtag #Zerstör_nicht_dein_Land_Tunesien_braucht_dich offenbar eher auf Kommunikation als auf Repression.
Das lässt hoffen, dass die tunesische Demokratie nach sieben Jahren auch die Mentalität jener verändert hat, die zuvor die Diktatur und ihre Günstlinge beschützt haben. Nur so hat sie die Chance, aus eigener Kraft zu bestehen - ganz egal, wie zuverlässig ihre vermeintlichen Freunde im Ausland sind.
Bachir Amroune
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