„Wir sind eine Alternative zu Propaganda und Hass“

Qantara: Frau Helmi, Syrien befindet sich derzeit in einer Phase erheblicher Instabilität, geprägt von sozialen Spannungen und politischer Unsicherheit. Was ist die größte Herausforderung für unabhängigen Journalismus in Syrien?
Kholoud Helmi: Falschinformationen finden rasend schnell Verbreitung. Jeden Tag werden über Social Media Millionen Gerüchte in Umlauf gebracht. Als es im März in den Küstenregionen zu Übergriffen zwischen Truppen der neuen Regierung und Assad-treuen Kämpfern kam, bei denen viele alawitische Zivilisten getötet wurden, kursierten zum Beispiel viele gefälschte Videos in den sozialen Medien.

In Wahrheit zeigten sie Verbrechen des Assad-Regimes aus dem Jahr 2012, wurden aber neu verbreitet und als aktuelle Aufnahmen ausgegeben. Dabei braucht es keine Fake-Videos, um zu beweisen, dass es zu Übergriffen kam – sie haben stattgefunden. Ich weiß, dass Desinformation ein globales Problem ist, aber in Syrien ist es besonders gefährlich, weil viele Menschen leichtgläubig sind. Es wird eine Herausforderung sein, all der Falschinformation und dem Hass, der da geschürt wird, etwas entgegenzusetzen.
Diese Entwicklung wird durch gesellschaftliche Spannungen und Konflikte verstärkt. „Othering“ ist weit verbreitet. Vertriebene Menschen hegen oft einen Groll gegenüber denen, die in Damaskus oder Aleppo geblieben sind. Sie denken: „Wir sind geflohen, haben gelitten, in Lagern gelebt – und sie sind einfach zu Hause geblieben.“ Aber auch wer nicht weggegangen ist, hatte es schwer. Alle hatten zu kämpfen. Aber niemand will glauben, dass wir alle gelitten haben.
Welche Rolle spielt „Enab Baladi“ in diesem Kontext?
Unabhängige Medien sind entscheidend, wenn es darum geht, den Frieden zu sichern. Wir wollen gegen die Verbreitung von Falschinformationen kämpfen und eine Alternative zu Propaganda und Hass bieten. Wir sind seit 14 Jahren Teil des Kampfes für unabhängigen Journalismus.
Viele sehen uns als eine der wichtigsten Säulen der freien Presse in Syrien. Mit unserer Rückkehr nach Damaskus senden wir eine starke Botschaft: Wir geben nicht auf. Wir sind da, und wir halten diesen Raum für ethischen Journalismus offen.
Viele Syrer haben Journalisten lange Zeit misstraut – vor allem denen der Staatsmedien. Ist das immer noch so?
Es gibt da zwei Arten von Menschen. Solche, die unbedingt ein Mikrofon vor die Nase gehalten bekommen wollen und bereit sind zu sprechen. Da sie es nie gewohnt waren, sich zu äußern, nutzen sie jetzt jede Gelegenheit dazu.
Die anderen sind leider weiterhin misstrauisch. Wenn man ihnen eine Frage stellt, wollen sie nicht vor der Kamera reden. Ich verstehe das vollkommen – sie leben seit so vielen Jahren in Angst. Sie haben gesehen, wie Menschen verschwanden oder getötet wurden, nur weil sie etwas gesagt haben.
Sie haben „Enab Baladi“ 2011 mit einer Gruppe von regierungskritischen Aktivisten in Daraja, gegründet. 2014 mussten Sie vor Repressalien in die Türkei fliehen. Im Januar hat „Enab Baladi“ wieder ein Büro in Damaskus eröffnet.
Ja, „Enab Baladi“ ist zurück in Syrien, und wir sind voll einsatzfähig. Wir drucken die Zeitung wieder und verteilen sie auf den Straßen von Damaskus. Wir haben ein hochmotiviertes diverses Team in Damaskus: 15 Mitarbeitende kommen täglich ins Büro – darunter Redakteurinnen, Videojournalisten, Reporter und eine Büroleitung. Und wir haben sogar eine erste Schulung für Journalisten abgehalten. Ich selbst kann derzeit nicht zurück nach Syrien, weil ich Flüchtlingsstatus in Großbritannien habe. Aber auf eine Weise fühlt es sich dennoch an, als wäre ich auch wieder vor Ort.
Bevor das Assad-Regime fiel, hatte ich begonnen zu akzeptieren, dass wir vielleicht nie zurückkehren würden. Es fühlte sich so an, als würde Assad für immer an der Macht bleiben – besonders, weil so viele Länder ihre Beziehungen zu seinem Regime wieder normalisierten.

Assads langer Schatten
In Syrien war Minderheitenschutz schon immer ein Vorwand, um religiöse und ethnische Gruppen gegeneinander auszuspielen. Wir Syrer müssen uns gegen die Instrumentalisierung unserer Identitäten wehren – denn auch die neue Regierung setzt auf Spaltung.
Als wir die Möglichkeit bekamen, zurückzukommen, wussten wir: Wir müssen uns diesen Raum zurückholen. Wir wurden ins Exil gezwungen und zu Flüchtlingen gemacht. Als das Regime gestürzt wurde, haben wir eine Entscheidung getroffen. Natürlich hatten wir Zweifel und haben uns gefragt: Ist es dort sicher genug, um diesen Schritt zu wagen? Ist jetzt wirklich der richtige Moment? Aber wir wollten zeigen, dass wir nicht mehr im Exil sind. Wir haben ein Zuhause. Wir haben ein Land.
Welche logistischen und finanziellen Herausforderungen stellten sich bei der Rückkehr nach Damaskus – und welche bestehen bis heute?
Unsere Umsiedlung fand zu einer Zeit statt, in der Präsident Trump alle Hilfsgelder für Syrien strich. Wir verloren alle USAID-bezogenen Mittel, wie etwa die des International Research & Exchanges Board (IREX). Als die Unterstützung durch die USA ausblieb, wurden auch die Fördermittel von EU-Ländern und Großbritannien stark reduziert.
Zum Glück haben wir seit 2014 unsere Einnahmequellen diversifiziert und erhalten weiterhin finanzielle Hilfe von europäischen Geldgebern und anderen großen Organisationen. Trotzdem müssen wir unseren Haushalt überdenken und unsere Arbeitsweise anpassen. Nach dem Fall des Regimes stiegen die Preise in Damaskus rapide. Also mussten wir Mittel umschichten, Kosten senken und Ressourcen verlagern.
Eine der größten logistischen Hürden war, dass nicht alle Mitgründer sicher nach Syrien zurückkehren können. Diejenigen aus dem Team, die es konnten, haben sich vor Ort auf die Suche nach neuen Mitarbeitern gemacht. Der Prozess war mit vielen Fragen verbunden. Zum Beispiel, wie wir neue Leute prüfen, um sicherzustellen, dass sie unsere Werte teilen. Trotz der Hürden haben wir das geschafft.
Sie sagten, die Zeitung wird kostenlos auf den Straßen verteilt – und sie ist auch online verfügbar. Wie reagieren die Menschen auf Ihre Berichterstattung?
Die Leserzahlen in Syrien sind massiv gestiegen. Die Menschen lesen die Zeitung, weil sie verifizierte Informationen liefert und das Assad-Regime uns so lange blockiert hat.
Was braucht es jetzt, damit ihre Arbeit auch in Zukunft problemlos möglich bleibt?
Derzeit haben wir sehr große Freiheiten. Wir dürfen über alles berichten. Und wir kritisieren die Regierung ganz offen, auch wo es um die Massaker in der Küstenregion ging. „Enab Baladi“ wird in Damaskus gedruckt. Wir haben Kopien ans Presse- und Informationsministerium geschickt – niemand kam zu uns und sagte, das dürft ihr nicht. Wir können uns direkt an Minister und Regierungsvertreter wenden, und meist sind sie hilfsbereit und beantworten Fragen.
Trotzdem muss noch einiges passieren. Wir hätten zum Beispiel direkt in die Küstenregion fahren und von dort berichten müssen, als es zu den Angriffen kam. Aber wir haben uns nicht getraut, unsere Reporter dorthin zu schicken. Was, wenn jemand entführt oder getötet worden wäre? Die Sicherheit für Journalisten zu garantieren, ist gerade eines der wichtigsten Ziele für die Zukunft.
Wir wissen auch nicht, ob es bei den derzeitigen Freiheiten bleiben wird oder ob die Regierung unsere Arbeit irgendwann doch wieder einschränkt. Wir müssen jetzt präsent sein – bevor Dinge blockiert werden. Ich weiß nicht, was als Nächstes passiert. Nicht, weil ich der neuen Regierung grundsätzlich nicht traue – ich bin einfach sehr vorsichtig optimistisch. Ich bin es nicht gewohnt, ruhig und entspannt zu sein. Ich glaube, alle unabhängigen Medien sollten jetzt von Syrien aus arbeiten, denn wir werden es sein, die die Pressefreiheit verteidigen, wenn sie wieder bedroht wird.

Was wird aus Syrien?
Die Frage nach Syriens Zukunft beschäftigt uns in dem Magazin "Kulturaustausch", mit dem wir für die aktuelle Ausgabe erstmals zusammengearbeitet haben. Die Antwort darauf liefern unsere syrischen Autor:innen.
Planen Sie langfristig, das gesamte Team nach Syrien zurückzuholen?
Ja, aktuell sind die Redakteure in der Türkei, in Deutschland und anderswo noch Teil des erweiterten Teams. Allerdings sprechen wir mit diesen Kollegen gerade darüber, ob sie bereit wären, nach Syrien zurückzukehren, und verhandeln Konditionen für einen möglichen Umzug. Es wird einige Mitarbeitende geben, die leider nicht zurück möchten. Darauf bereiten wir uns vor. Der Betrieb innerhalb Syriens ist billiger als in der Türkei oder in Europa, aber die Gehälter sind eben auch niedriger.
Unter dem Assad-Regime waren kritische Medien großen Gefahren ausgesetzt: Journalisten wurden verfolgt, inhaftiert und getötet. Medienunternehmen litten unter finanziellem Druck. Wie haben Sie es geschafft „Enab Baladi“ so lange weiterzuführen?
Wir hatten ein großartiges Team – Menschen, die von Anfang an an „Enab Baladi“ geglaubt haben. Ich verdanke unsere Beständigkeit vielen, besonders aber unserem Chefredakteur und den leitenden Redakteuren. Sie haben fast ohne Bezahlung gearbeitet und auf vieles in ihrem Leben verzichtet. Ich habe nie aufgehört, über „Enab Baladi“ zu sprechen, auf Konferenzen, in Meetings, in Dokumentationen. So haben wir es geschafft, den Menschen in Erinnerung zu bleiben. Wir haben unsere Glaubwürdigkeit und unsere Werte bewahrt.
Wir tragen auch das Vermächtnis der sechs Mitarbeiter weiter, die vom Regime getötet wurden. Einer von ihnen war mein Bruder. Was uns weitermachen lässt, ist die Überzeugung, dass sie dasselbe für uns getan hätten.
Dieser Text ist auch in einer gemeinsamen Ausgabe von Qantara und dem Magazin Kulturaustausch erschienen. Weitere Analysen, Interviews und Reportagen finden Sie hier sowie in unserem Syrien-Schwerpunkt.
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