Identität auf der Leinwand

Cherien Dabis - palästinensische-amerikanische Filmemacherin und Schauspielerin
Schauspielerin und Regisseurin zugleich: die US-Palästinenserin Cherien Dabis (Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | A. Terenghi)

Cherien Dabis verwebt in „Im Schatten des Orangenbaums“ eine Drei-Generationen-Familiensaga mit der Geschichte Israels und Palästinas – und gesellt sich damit zu einer ganzen Reihe von Filmen, die zeigen: Im Kino wird palästinensische Identität verhandelt.

Von Amin Farzanefar

„Ich bin hier, um die Geschichte meines Sohnes zu erzählen, aber dafür muss ich Ihnen die Geschichte seines Großvaters erzählen.“ Eine alte Frau spricht in die Kamera – wann, wo und zu wem, werden wir erst am Ende des Films „Im Schatten des Orangenbaums“ erfahren. 

Bis dahin folgen wir dem Schicksal einer palästinensischen Familie seit der Nakba 1948; die Erzählerin – Hanan – folgt dabei keinem strikt chronologischen Ablauf, sondern wechselt zwischen mehreren Zeitebenen.   

Aus dem Jahr 1988, als Hanans Sohn Noor bei einer Anti-Israel-Demonstration im Westjordanland lebensgefährlich verletzt wird, geht es zurück ins Jaffa des Jahres 1948: Hanans Schwiegervater Sharif wird von seiner Villa und seinen geliebten Orangenhainen vertrieben.  

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Vertreibung, Krieg und Gefängnis verschlagen die Familie ins Westjordanland, und Hanans Mann Salim wächst – wie auch später der gemeinsame Sohn Noor – mit Erzählungen einer Heimat auf, die er nie wirklich kannte. 

Die israelische Besatzung wird recht drastisch dargestellt. Noor muss miterleben, wie sein Vater Salim von jungen israelischen Soldaten gedemütigt wird, die ihre Machtfantasien mit vorgestrecktem Gewehr ausleben.  

Dies weckt eine Wut, die Noor später während der ersten Intifada Ende der achtziger Jahre als Teenager auf die Straßen treibt und selbst zum Opfer israelischer Gewalt werden lässt. Dies ist der Ausgangspunkt der Erzählung der Mutter und des Films. 

Aus der Diaspora nach Palästina und zurück

Cherien Dabis‘ Epos ist inspiriert von klassischen ägyptischen Melodramen: Die Emotionen sind groß, die Länge ist mit 145 Minuten nicht zu knapp, und die generationenübergreifende Familiensaga bewegt und berührt – und verhandelt dabei wichtige Themen: Besatzung, transgenerationales Trauma, Diaspora, die Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat. 

Dabis, 1976 in Omaha im US-Bundesstaat Nebraska geboren, ist selbst Teil der globalen palästinensischen Diaspora. Wie sie in Interviews erzählt hat, wurde sie mit acht Jahren bei ihrem ersten Israelbesuch zwölf Stunden lang an der Grenze festgehalten und am ganzen Körper durchsucht. Dieser „Erstkontakt“ reichte ihr erstmal – erst zwanzig Jahre später besuchte sie Palästina wieder.  

Ihre ersten beiden Spielfilme vermittelten jeweils eine Außenseiterperspektive: „Amreeka” (2009) erzählte von einer Palästinenserin in den USA; im Nachfolgefilm „May in the Summer” (2013) ging es um die Erfahrungen als Amerikanerin im Mittleren Osten.  

In den USA erlebte Dabis als Araberin zahlreiche Ängste und Vorurteile, Drohungen und Beschimpfungen. Darauf reagiert auch „All That’s Left of You“, wie „Im Schatten des Orangenbaumes“ im Original heißt. Der deutsche Verleihtitel ruft wieder ein – positives – Klischee ab.  

Mit diesem Film will Dabis einer falschen Darstellung und Repräsentation der Palästinenser begegnen, die Fanatismus, Gewaltbereitschaft, Rückständigkeit in den Vordergrund rückt.

Dem stellt sie zu Beginn das bildungsbürgerliche Ambiente in der Villa des Großvaters in Jaffa gegenüber. Bei Tisch zitieren Groß und Klein arabische Lyrik, und überhaupt ist der ganze Film von familiärer Liebe und Zusammenhalt getragen.   

Palästinensische Filmemacher mit Erfolg

Wie Dabis bemühen sich viele palästinensische Autorenfilmer um ein realistisches und differenziertes Bild palästinensischer Identität und Befindlichkeit – mit internationalem Erfolg: etwa Rashid Masharawi, dessen Filme seit Jahrzehnten so authentisch wie möglich palästinensischen Alltag einfangen. Sein jüngstes Projekt „From Ground Zero“ (2024) vereint 22 in Gaza entstandene Kurzfilme.  

Der in Paris lebende Filmemacher Elia Suleiman setzt sich poetisch-ironisch mit Exil und Besatzung auseinander; May Masri dokumentiert seit den 1980ern das Leben unter der Besatzung und in libanesischen Flüchtlingslagern.  

Andere Filmschaffende nähern sich auf intellektuellere, postmoderne Weise der Konstruktion palästinensischer Identität, befragen und hinterfragen Bildarchive, historische Narrative und die eigene Erinnerung – etwa Kamal Aljafari, dessen „Mit Hassan in Gaza“ (2025) gerade auf den Duisburger Filmtagen Deutschlandpremiere feierte.  

Mahdi Fleifel aus Dänemark widmet sich in seinen Dokumentarfilmen den Flucht- und Wanderungsbewegungen der internationalen Diaspora – auch in seinem aktuellen Drama „To a Land Unknown“ (2025), in dem er zwei jungen, in Athen gestrandeten Geflüchteten folgt, die weiter nach Berlin wollen (Starttermin 27. November). 

Angesichts geradezu surrealer Zustände künstlicher Grenzziehungen und ummauerter Dörfer sowie eines nur virtuell, in Erinnerungen und Utopien existierenden Landes nähern sich palästinensische Filmschaffende in jüngster Zeit auch mit Mitteln der Science-Fiction und der Fantastik ihrer Situation.  

Westliche Filmemacher fühlen sich seit Jean-Luc Godard (anfangs sehr tendenziös) der palästinensischen Sache verpflichtet. Und nicht zuletzt erzählen auch israelische Filmschaffende von palästinensischen Schicksalen – Eran Riklis‘ Spielfilme etwa oder Yuval Abrahams in Ko-Regie mit seinem palästinensischen Kollegen Basel Adra entstandener und vielfach prämierter Dokumentarfilm „No Other Land“ (2024).  

Kino jedenfalls, so viel ist klar, ist von essenzieller Bedeutung für die Konstruktion, Entwicklung und Selbstbefragung palästinensischer Identität.   

Internationales Publikum im Blick

Das Alleinstellungsmerkmal von „Im Schatten des Orangenbaumes“ ist, dass Cherien Dabis ihren Film als gefühlvolle Familiensaga anlegt, die ein größeres internationales Publikum anspricht.  

Als Darsteller des Sharif wählte sie Mohammad Bakri, den charismatischen Star des palästinensischen Kinos, dessen Söhne Adam und Saleh gleichfalls mitwirken. Dabis selbst trägt uns in der Rolle von Noors Mutter Hanan durch die Jahrzehnte der Handlung.  

Ursprünglich sollte der Film in Palästina gedreht werden, doch der Gazakrieg zwang die Crew zwei Wochen vor dem geplanten Drehbeginn zur Evakuierung, sodass die Produktion nach Zypern, Griechenland und Jordanien verlegt werden musste. 

Am Ende gab es Schwierigkeiten, einen Verleih in den USA zu finden – Filme aus und über Nahost lassen wohl gerade Minenfelder und Skandale befürchten. Aber international erhielt Dabis’ Film zahlreiche Auszeichnungen, darunter mehrere der besonders begehrten Publikumspreise. Offenbar erreicht er die Herzen. 

Apropos Herz: Irgendwann erfährt man – so viel sei hier gespoilert –, dass Noor nach der Demonstration im Westjordanland auf der Intensivstation landet und nicht überleben wird. Seine Eltern müssen darüber entscheiden, seine Organe zur Spende freizugeben: zur Rettung anderer Leben, womöglich auch israelischer.  

Diese Größe und Selbstüberwindung erinnern an Marcus Vetters Dokumentarfilm „Das Herz von Jenin“ (2008), in dem ein Vater seinen von israelischen Soldaten irrtümlich erschossenen elfjährigen Sohn zur Organspende freigibt – eine wahrhaft herzergreifende Geschichte.  

Seine Argumentation, dadurch den Kreislauf aus Hass und Gewalt zu durchbrechen, teilen auch Noors Eltern in „Im Schatten des Orangenbaumes“. Wie oft soll sich ein Trauma, soll sich Geschichte wiederholen?

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