Dem aufgeklärten Islam eine neue Chance geben
Die jüngsten Terrorangriffe in Frankreich, Kuwait und Tunesien erinnern uns daran, wie wichtig es ist, zu begreifen, dass diese Gewaltakte nicht einfach das Werk bösartiger Krimineller sind, sondern die brutale Konsequenz ernsthafter Ideen.
Gewalttätige dschihadistische Bewegungen bedrohen Europa oder Nordamerika nicht existenziell. Sie sind zwar gelegentlich in der Lage, todbringende terroristische Anschläge zu verüben, aber sie vermögen es nicht, die westlichen Gesellschaften zu zerstören oder zu beherrschen. Panische Versuche, in muslimische Länder einzumarschieren und die Bedrohung auszurotten, bewirkten das Gegenteil und machten den islamischen Extremismus nur noch stärker.
Die meisten Muslime lehnen die radikalsten Richtungen des Islam ab. Doch viele – wenn nicht sogar die meisten – sympathisieren mit der Vorstellung, sich dem Diktat des Westens entgegenzustellen und dem Glauben seine vergangene Stärke und Strahlkraft zurückzugeben. Es wäre falsch zu behaupten, dass nur eine kleine Minderheit der Muslime die Aktionen der Extremisten deckt oder dass fundamentalistische Splittergruppen sich einer Religion bemächtigt haben, in der sie völlig unterrepräsentiert sind. Islamische Radikale genießen durchaus genügend Unterstützung, um in ihrem Teil der Welt eine ernsthafte Bedrohung darzustellen. Wir sollten begreifen, wie es dazu kommen konnte.
Radikale und konservative islamische Theologien gibt es seit dem Tod des Propheten Mohammed im Jahr 632. Ihnen standen jedoch immer wieder tolerantere, gemäßigte Auslegungen der muslimischen Lehre entgegen. Auch der Koran ist wie die christlichen und jüdischen Schriften für Auslegungen offen – sei es in liberaler, dogmatischer oder repressiver Richtung.
Fehlinterpretation des Koran
Im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert waren viele muslimische Denker – und allen voran Dschamal ad-Din al-Afghani – davon überzeugt, dass der einzige Weg zum Fortschritt darin liege, viele der im Westen während der Aufklärung entwickelten Ideen zu übernehmen. Al-Afghani und andere schrieben, dass die islamische Ablehnung der westlichen Wissenschaften und Fortschritte eine Fehlauslegung des Korans sei.
Im weiteren Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts verloren muslimische Reformer allerdings Boden gegenüber säkularen Nationalisten, die im Sozialismus den Weg zur Modernisierung sahen. Das Versprechen des Säkularismus sollte sich jedoch nicht erfüllen. Länder wie Ägypten, Libyen, Irak und Syrien versanken in Despotismus und Korruption. Das bereitete den Nährboden für antiwestliche, rückwärtsgewandte und gewalttätige Auslegungen des Islam.
Diese Spannungen haben viele intellektuelle Wurzeln. Die wichtigste moderne Quelle ist möglicherweise das Werk des ägyptischen Theoretikers Sayyid Qutb. Gemeinsam mit anderen Fundamentalisten, wie dem pakistanischen Philosophen Abul Ala Maududi, behauptete Qutb, der wahre Islam sei von auswärtigen Ideen infiltriert und korrumpiert worden. Nur mit der Rückbesinnung auf den wahren Islam könne es gelingen, zwei Jahrhunderte der Demütigung durch imperiale westliche Mächte und – in jüngerer Zeit – durch den Staat Israel umzukehren. Gott stünde dann wieder auf der Seite der Muslime gegen seine Feinde, die Qutb als "Kreuzfahrer und Juden" bezeichnete.
Dynamik des politischen Islam
Diktatoren in Nordafrika und im Nahen Osten versuchten, die islamischen Konservativen zu unterdrücken. Doch Saudi Arabien, eine Bastion des Konservatismus, nutzte seinen Ölreichtum zum Kampf gegen säkulare Modernisierer und jede Art eines reformierten Islam. So wurden fundamentalistische Missionswerke und konservative Moscheen in der gesamten islamischen Welt finanziert. Im Rahmen eines brutalen, aber gescheiterten Versuchs, die Muslimbruderschaft zu vernichten, ließ der ägyptische Diktator Gamal Abdel Nasser Qutb 1966 exekutieren.
Die konservativen Islamisten wurden durch die Übergriffe sogar noch stärker. Ihr Glaube half ihnen, die Repressionen zu überstehen. Es gelang ihnen zudem, junge, unzufriedene Muslime davon zu überzeugen, der Extremismus sei der einzige mögliche Ausweg aus der Chancenlosigkeit und der Schwäche ihrer Gesellschaft.
Die Bekämpfung von Ideen mit militärischen Mitteln ist der sichere Weg zur Niederlage. Wenn westliche Mächte ihre Soldaten in muslimische Länder entsenden, wenn sie versuchen, Extremisten mit Bomben zu unterwerfen, wenn sie brutale Diktaturen decken oder blind jede israelische Politik unterstützen, bestätigen sie nur den Anspruch der radikalen Islamisten und treiben ihnen neue Anhänger zu.
Kampf der Ideen
Der eigentliche Kampf findet zwischen den Ideen statt. Nicht bewaffnete, panische Überreaktionen sind gefragt, sondern kultureller Austausch. In den islamischen Gesellschaften gibt es viele ernstzunehmende Intellektuelle, die den Ruf der Reformatoren zur Übernahme von Gedanken aus der westlichen Aufklärung erneuern möchten, ebenso wie die Bedeutung liberaler Toleranz und die Notwendigkeit eines freien und offenen Meinungswechsels. Westliche Gelehrte, die den Islam verstehen und einige der vielen Sprachen seiner Anhänger sprechen, müssen diese intellektuellen Bewegungen unterstützen.
Hardliner lehnen das möglicherweise als Schwäche ab. Auch wenn diese Bewegungen auf kurze Sicht tatsächlich nicht viel ausrichten mögen, so werden sie sich langfristig als unverzichtbar erweisen. Der Kommunismus in Europa – eine weit gefährlichere Ideologie als der radikale Islam – wurde nicht allein militärisch niedergerungen, sondern auch von der Kraft der Ideen und Ideale.
Scott L. Montgomery und Daniel Chirot
© Project Syndicate 2015
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers