Dringender Handlungsbedarf
Mehr als fünf Millionen Syrer sind bisher aus ihrer Heimat ins Ausland geflohen, die Hälfte davon sind Kinder. Nach UN-Angaben sind weitere sechs Millionen Menschen innerhalb Syriens auf der Flucht.
Im Februar 2018 hatten Mitarbeiter der internationalen Hilfsorganisation World Vision die Gelegenheit, im Süden Syriens, im Libanon und in Jordanien über 1.200 syrische Flüchtlingskinder im Alter von elf bis 17 Jahren zu ihrer aktuellen Situation zu befragen. Das Ergebnis ist in der kürzlich erschienenen Studie "Beyond survival" nachzulesen.
Die unmittelbare Angst vor dem Krieg sei bei den Kindern, die im Süden Syriens leben, am größten, so der Bericht. Der Konflikt habe aber die familiären Lebensumstände und die sozialen Strukturen aller befragten Kinder dramatisch verändert. Sie lebten unter schwierigen Bedingungen, in Armut, vermissten Familienangehörige und Freunde, die vorher Teil ihres Lebens waren. Ihre Zukunft ist ungewiss.
Als ein großes Problem stellt sich für alle befragten Kinder die beengte Wohnsituation dar. Über 70 Prozent der Kinder in Südsyrien und dem Libanon gaben an, mit mindestens drei Personen in einem Raum zu leben, in Jordanien waren es sogar 80 Prozent. Diese angespannte Wohnsituation führe nicht selten zu häuslicher Gewalt.
Kein Zugang zur Gesundheitsversorgung
Sowohl im Süden Syriens als auch im Libanon gaben über 60 Prozent der Kinder an, in unsicheren Behausungen zu leben, das heißt in beschädigten Gebäuden mit keinem oder nur unzureichendem Zugang zu Wasser oder Strom. Über die Hälfte aller Kinder hatten laut Bericht keinerlei Zugang zur Gesundheitsversorgung. Jedes fünfte Kind im Libanon und im Süden Syriens bekommt nicht genug zu essen.
Viele der befragten Kinder gaben an, arbeiten zu müssen, um das spärliche Familieneinkommen aufzustocken. Drei von fünf der befragten Kinder im Libanon gingen gar nicht zur Schule. Etwas besser sah dem Bericht zufolge die Situation im Süden Syriens und in Jordanien aus – hier waren es acht beziehungsweise elf Prozent der Kinder, die gar nicht zur Schule gingen.
99 Prozent der Kinder im Süden Syriens gaben an, unter bildungsbedingten Stressfaktoren zu leiden – sei es Gewalt in der Schule oder Probleme mit dem Lehrstoff. Im Libanon waren es 86 Prozent, in Jordanien 52 Prozent. Viele der Kinder sagten, sie könnten sich aufgrund der beengten Wohnsituation nicht auf ihre Schularbeiten konzentrieren. Die Kinder klagten nicht nur über Probleme mit dem Lehrstoff.
Insbesondere im Süden des Bürgerkriegslandes berichteten sie von körperlicher Züchtigung und von schwerer verbaler Gewalt in der Schule. Das höhere Stresslevel, die permanente Anspannung unter der die Lehrer dort stehen, wirke sich auch auf die Situation im Klassenraum aus, berichtet World Vision.
Gefahr bleibender Gesundheitsschäden
Die Geschichten der Kinder in dem Bericht "Beyond Survival" zeugen alle vom täglichen Kampf, dem sie ausgesetzt sind, von materiellen und sozialen Stressfaktoren, die das alltägliche Leben zur Mühsal werden lassen. Für Kinder könne diese Belastung zu langfristigen mentalen Problemen wie dem Posttraumatischen Stresssyndrom, Depressionen und Angstzuständen führen.
Werden diese Stressfaktoren nicht angegangen, drohten den Kindern langfristige Gesundheitsprobleme wie Herzerkrankungen, Schlaganfälle, geringe Widerstandfähigkeit, aber auch Gewalt und lebenslange Armut.
Laut Wynn Flaten, dem Leiter der Syrienhilfe bei World Vision, gehe es nicht nur darum, das nackte Überleben der Mädchen und Jungen zu sichern, vielmehr müsse ihre Kindheit als solche geschützt werden, damit sie zu körperlich und geistig gesunden Menschen heranwachsen können.
World Vision appelliert daher an alle Beteiligten: Die Gewalt müsse beendet, die Familien müssten unterstützt und wieder zusammengeführt werden. Auch müssten dringend psychosoziale Unterstützungsprogramme aufgebaut werden, damit Kinder die Fähigkeit zur Versöhnung entwickelten und für ihr Land eine bessere Zukunft gestalten könnten.
Dagmar Wolf
© Zeitschrift Entwicklung & Zusammenarbeit 2018