Narrenfreiheit, Narrenweisheit
Der Weise Narr Moha lebt in einem Baum, dem Gedächtnisbaum. Moha hört und sieht alles Gegenwärtige und alles Vergangene. Und Moha spricht frei heraus, denn er ist verrückt.
Die Figur des weisen Narren ist in der nordafrikanischen Erzählkultur sehr präsent. Als Sprachrohr der Ungehörten, der Schwachen und Unterdrückten weist er auf Missstände politischer oder gesellschaftlicher Art hin und wagt zu sagen, was andere Menschen in Gefahr bringen würde – denn er genießt Narrenfreiheit.
"Jeder Mensch kann durch Moha sprechen", sagt Theaterregisseurin Irinell Ruf. Sie selbst ist in Marokko und Tunesien aufgewachsen. Die Sagengestalt, die unter diesem oder anderen Namen durch die Städte Nordafrikas zieht, ist ihr wohlvertraut. Dass die Figur bis heute nicht an Aktualität und Bedeutung eingebüßt hat, entdeckte sie dank eines Mannes, der selbst dafür bekannt ist, kein Blatt vor den Mund zu nehmen.
Poetische Gesellschaftskritik
1978 veröffentlichte der marokkanische Autor Tahar Ben Jelloun den Roman "Moha le sage, Moha le fou" (deutscher Titel: Der Gedächtnisbaum). Das teils poetisch-phantasievoll, teils erbarmungslos realistisch verfasste collagenartige Buch klagt durch den Mund Mohas die weltweiten Zusammenhänge von Verelendung, Heuchelei und Gedankenmanipulation an. Auch wenn die Geschichten eingebettet sind in die koloniale Vergangenheit des Maghreb, so sind die darin aufgegriffenen Themen doch global und zeitlos.
Bis 2006 war das Buch in Marokko verboten. "Heute darf man es dort zwar lesen, kann es aber leider nirgendwo kaufen", meint Jan lachend. Der Hamburger Student ist Teil der 14-köpfigen Gruppe junger Künstler, die gemeinsam mit Ruf das Tanztheater "Moha der Gedächtnisbaum" frei nach Tahar Ben Jelloun inszeniert und am 10. Juni erstmals in Hamburg aufgeführt hat.
Für die Regisseurin ist damit ein langjähriger Traum in Erfüllung gegangen: Neun Jahre und mehrere Anläufe hat es gebraucht, bis Moha tatsächlich seinen Weg auf die Bühne fand.
Ein deutsch-marokkanisches Projekt
Vor eineinhalb Jahren begann Ruf zunächst mit sieben Studierenden der Universität Hamburg zu arbeiten. "Wir haben das Buch gelesen und jeder sollte eine Stelle herausgreifen, die ihn besonders berührt hat. Aus dieser Stelle sollten wir jeweils ein Standbild aus den Darstellern bauen, sodass das Thema der Szene erkennbar wurde. Diese Standbilder waren unsere Ausgangsbasis, mit ihnen haben wir improvisiert und Texte und Choreografien eingearbeitet", erklärt die Studentin Roza.
Die Texte stammen sowohl aus Ben Jellouns "Gedächtnisbaum" wie auch aus dem eigenen Gedankenschatz der Künstler. Das Stück hat keine Handlung, sondern besteht vielmehr aus einer Aneinanderreihung kurzer Imaginationen zu bestimmten Themen. Feste Rollen gibt es ebenso wenig: Jedes Standbild zeigt andere Charaktere, die beim Bau der Bilder zugeteilt wurden. Auch Moha – der Allgegenwärtige – spricht aus dem Mund jedes einzelnen.
Das deutsch-marokkanische Projekt wurde im November 2011 durch sieben Studierende aus Casablanca komplettiert. Sieben Deutsche, sieben Marokkaner, sieben Männer, sieben Frauen. 14 junge Menschen, die durch die Figur Moha in arabischer und deutscher Sprache durch Text, Gesang und Tanz persönliche Erinnerungen und allgemeine Weltanschauungen ausdrücken.
Universelle und zeitlose Bilder
Worüber spricht Moha? Über Vergangenes und Zukünftiges, über all das, was ignoriert, übersehen oder kläglich akzeptiert wird. Moha, die unterdrückte Frau, wettert gegen das Patriarchat, die Ausgrenzung und den Missbrauch ihres Geschlechts; sie schreit: "Eure Körper werden für null und nichtig erklärt!"
Moha, die säkulare Oppositionelle, prangert den Widerspruch zwischen scheinheiliger Religiosität und gesellschaftlicher Realität an und bekundet: "In Wirklichkeit wird die Religion missbraucht." Moha, der Notleidende, kritisiert die Ausbreitung westlich-kapitalistischer Denkweisen und die wachsende Verelendung in seinem Land. Er klagt: "Die Unabhängigkeit! Sie hat den Profit nationalisiert und die Wellblechbaracken mit Nationalfarben übertüncht. Die Erde ist ausgetrocknet und die Armen werden immer freier, denn sie besitzen nichts."
Moha spricht über die koloniale Vergangenheit und die Franzosen, die "unsere Erde verwundeten" und sich selbst bereichert hätten. Auch über die Zeit der arabischen Despoten berichtet sie, als "die Frauen unserer Präsidenten das Gold mit bloßen Händen in Flugzeuge nach Paris trugen". Moha thematisiert die Gegenwart, "die Doppelzüngigkeit, nein, die kriminelle Heuchelei der Europäischen Union" und den "amerikanischen Plan der zwangsweisen Demokratisierung der arabischen Welt".
Und Moha, der Revolutionsführer, fordert: "Haltet euren Zorn nicht länger hinten in der Kehle zurück. Geht auf die Straßen, geht auf die großen Plätze, redet, erzählt, singt, steht auf, aber verharrt nicht in Schweigen und Angst. Sie wollen euch mit Angst überfluten."
Die Bilder sind ebenso zeitlos wie hochaktuell. Der arabische Kontext ist durch Sprache, Musik und Kleidung der Darsteller erkennbar, doch die Bilder sind global und universell. Das Stück ist ein Appell zu mehr Besinnung, Ehrlichkeit und Menschlichkeit – eine Hommage an die Würde, Poesie und Schönheit, eine Absage an die moderne Schnelllebigkeit und den Kulturverlust der heutigen Zeit, ein Wunsch nach einer Welt voller Empathie und ohne Gedankengrenzen.
Oder wie es einst Tahar Ben Jelloun ausdrückte: "Macht es mir nach. Streift alles ab. Geht nackt auf das Meer, auf den Wald und den Himmel zu. Nehmt euer Geld nicht mit. Lasst es auf der Straße und kommt auf die Dächer tanzen."
Laura Overmeyer
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de