Selektiver Umgang mit Traditionen
Die Warnung vor der "kulturellen Invasion" gehört im Iran seit der islamischen Revolution 1979 zu den Grundmotiven des offiziellen Diskurses. Ästhetik gelte den regierenden Islamisten als nicht weniger gefährlich als konventionelle Politik, schreibt der iranische Politikanalyst Mehdi Khalaji. Ihre Furcht sei, dass "die westlichen Kultur-Kolonialisten versuchen, die kulturelle 'Authentizität' der Muslime zu zerstören und ihnen ihre ‘Originalität’ zu nehmen". Dies erkläre, warum der Kampf gegen den kulturellen Einfluss des Westens mit so großer Härte geführt werde – wenn auch bekanntlich mit nur begrenztem Erfolg.
Erst kürzlich hat Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei wieder vor der kulturellen Unterwanderung des Landes gewarnt. Die "globale Arroganz", also die Vereinigten Staaten, hätten "gewisse Pläne für Nationen", warnte Khamenei im letzten Mai bei einem Treffen mit Lehrern. Die Imperialisten wollten die jungen Iraner nach ihren eigenen kulturellen Werten erziehen, damit sie später als Agenten des Westens in ihrem Interesse handelten. Dieser "kolonialistische, kulturelle Plan" werde bereits seit Jahrzehnten verfolgt.
Die "kulturelle Invasion" über Internet, Fernsehen und andere Medien sei nicht weniger gefährlich als die militärische Macht des Westens, mahnt Khamenei immer wieder und zögert auch nicht, westliche Musik, Filme und Bücher mit Artillerie und Bomben gleichzusetzen. Eine kulturelle Öffnung, wie sie der moderate Präsident Hassan Rohani befürwortet, kommt für Khamenei und andere islamistische Hardliner nicht in Frage, da dies aus ihrer Sicht die Daseinsberechtigung des Regimes gefährden würde.
Kulturpolitik ist deshalb so wichtig für die Islamische Republik, weil ihr Ziel die Schaffung einer authentisch islamischen Gesellschaft ist. Um dieses Ziel zu erreichen, lancierten die Islamisten nach der politischen Revolution 1979 eine kulturelle Revolution, um die Kultur gemäß den Werten des Islam umzuformen. Die Frage ist nur, was bedeutet das konkret für die Ästhetik? Wie sieht etwa eine authentisch islamische Architektur aus? Die Antwort ist oft widersprüchlich und nicht selten überraschend.
Authentizität durch Imitation
Nehmen wir zunächst das Mausoleum von Ayatollah Ruhollah Khomeini, das sich ganz im Süden von Teheran an der Autobahn nach Qom erhebt. Mit seiner zwiebelförmigen Kuppel, seinen goldenen Minaretten und seinen hohen Portalen verweist der Bau klar auf die traditionelle Architektur islamischer Heiligengräber. In der gigantischen Grabhalle, die nach jahrzehntelanger Bautätigkeit kürzlich fertig gestellt wurde, zieren kalligraphische Schriftzüge, Spiegelmosaike und die Muqarnas genannte Stalaktitendekoration Wände und Kuppel.
Auch wenn das Mausoleum durch die enormen Dimensionen, die grellen Farben und die modernen Materialien mit den Vorbildern bricht, gilt hier klar: Authentizität durch Imitation. Auch in den alten Pilgerstätten in Qom oder Maschhad orientieren sich die seit der Revolution errichteten Erweitungsbauten an der traditionellen religiösen Architektur mit ihren Bögen, Kacheln und Mosaiken. Zugleich zeigt sich hier aber ein pragmatischer Umgang mit dem Heiligen, der in einem religiösen Staat wie dem Iran überrascht.
Im Mausoleum von Imam Reza in Maschhad etwa, der wichtigsten islamischen Pilgerstätte im Iran, führen Rolltreppen in den Untergrund, darüber geschwungene Aludächer, die auch zu einer Shoppingmall gehören könnten. Um Platz für neue Höfe zu schaffen, wurde zudem die alte Ringstraße in den Untergrund gelegt, so dass unter dem Schrein heute auf einer vierspurigen Schnellstraße die Autos kreisen – es ist ein wenig, als hätten man ein Autobahnkreuz unter den Petersdom gelegt.
Weder modern noch westlich
Dieser Fokus auf Effizienz irritiert auch viele fromme Muslime. Nicht wenige sind unglücklich mit der Modernisierung des Mausoleums von Maschhad und sehnen sich nach dem früheren Zustand, wie die Architektin und Anthropologin Samar Saremi berichtet, die über die Entwicklung des Schreins forscht. Auch sei umstritten, ob die modernen Ausbauten als "islamisch" gelten können. Eine offene Debatte dazu werde aber nicht geführt, da Kritik schnell als Kritik am Islam verstanden werde.
Es überrascht kaum, dass es unterschiedliche Vorstellungen dazu gibt, was "islamisch" in der Architektur bedeutet. Was aber doch überrascht ist, dass in einem Staat, der sich die kulturelle Authentizität auf die Fahnen geschrieben hat, diese Frage bei säkularen Bauten kaum eine Rolle spielt. Weder bei Ministerien noch Universitäten, Bahnhöfen oder anderen prominenten Bauten, die seit der Revolution 1979 errichtet wurden, gibt es einen klaren Bezug zur islamisch-iranischen Bautradition.
Besonders augenfällig ist dies beim neuen "Museum der heiligen Verteidigung" in Teheran, das eingerahmt von Kampfjets, Helikoptern und Panzern in einer aufwändigen Parkanlage nördlich des Zentrums liegt. Das Prestigeprojekt von Bürgermeister Mohammed-Baqer Ghalibaf ist als zentrale Gedenkstätte für den Iran-Irak-Krieg von hoher politischer Bedeutung, doch könnte der ultramoderne Bau mit seiner Glas-und-Metall-Fassade auch ein Kongresszentrum oder ein Flughafenterminal in jedem anderen Land sein.
Das Vorbild vieler iranischer Architekten, Stadtplaner und Politiker sei die Architektur und Ästhetik globaler Metropolen wie Dubai oder Singapur, erklärt die Architektin Saremi. Das Alte wird in Teheran und anderen Städten gnadenlos abgerissen und überbaut. Was an seiner Stelle an Neubauten entsteht, unterscheidet sich in Ästhetik, Struktur und Logik kaum von der Architektur anderer Länder. Im Ergebnis wirken iranische Städte zwar nicht modern oder westlich, aber seltsam geschichtslos.
Gebrochenes Verhältnis zur eigenen Geschichte
Zwar heben die regierenden Islamisten die Frühzeit des Islam als Modell für Kultur, Politik, und Gesellschaft hervor, doch ist diese Epoche so fern, dass sie kaum ein ästhetisches oder sonstiges Vorbild abgibt. Zugleich verwerfen die Islamisten die spätere Geschichte mitsamt einem Großteil der Rituale, Traditionen und ästhetischen Entwicklungen als Abweichung vom "wahren Islam". Das Ergebnis ist ein gebrochenes Verhältnis zur eigenen Geschichte und ein stark selektiver Umgang mit Traditionen.
Mit ein Grund für die Abwendung von der eigenen Tradition ist die autoritäre Modernisierungspolitik des letzten Schahs, der das Land nach westlichem Vorbild umgestalten wollte. Unter anderem beförderte Mohammed Reza die Abkehr von der traditionellen persischen Wohnarchitektur, bei der sich das Leben in abgeschlossenen Innenhöfen abspielte. Die Frauen sollten aus der Abgeschiedenheit der Höfe befreit werden und sich auf Balkonen und Fenstern der Öffentlichkeit auf der Straße zeigen.
Zwar brach Khomeini nach der Revolution das Modernisierungsprojekt des Schahs ab, das ihm als Fall von Gharbzadegi galt, übersetzt etwa "West-Verfallenheit", doch war da der Faden zur Geschichte bereits zerrissen. Obwohl die Wohnarchitektur unmittelbar mit dem Familien- und Frauenbild zusammenhängt, gab es nach 1979 keinen Versuch, von den neuen Appartmentblocks zu den geschlossenen Hofhäusern zurückzukehren. Heute sind sie aus den Städten fast vollständig verschwunden.
Bei aller Skepsis gegenüber der westlichen Moderne sind die regierenden Islamisten keine Traditionalisten. Vielmehr geht es ihnen um eine alternative, authentisch islamische Kultur. Die Vorstellung, wie diese in ästhetischer und anderer Hinsicht aussehen soll, ist aber vage.
"Die islamistische Ideologie positioniert sich mehr 'gegen' die Moderne, als 'für' den Aufbau einer authentischen und funktionalen Gesellschaft", schreibt Mehdi Khalaji. "Die islamistische Ideologie ist heute mehr als ein Jahrhundert alt, doch gibt es noch immer keine klare Vision, wie die utopische islamistische Gesellschaft aussehen könnte. Da sie ihrer Natur nach auf Negation basiert, liegt ihre Kraft mehr in der Zerstörung."
Ulrich von Schwerin
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