Der große Irak-Schwindel
Unterstützt von der BBC und Dr. David Morrison führte ich eigene Untersuchungen zum Kriegseintritt Großbritanniens gegen den Irak im Jahr 2003 durch. Die Ergebnisse sind verheerend. Für Blair, für das Parlament und für uns alle.
Vor einiger Zeit unterhielt ich mich mit Dr. Hans Blix, der vor dem Einmarsch in den Irak 2003 Leiter der UN-Kommission zur Überwachung, Verifizierung und Inspektion war. Er erzählte mir, dass die Äußerungen von Tony Blair zu Massenvernichtungswaffen in den Händen von Saddam Hussein keineswegs den Geheimdiensterkenntnissen entsprachen, die der britischen Regierung vorlagen.
"In dem britischen Dossier wurde einfach behauptet, sie [die Massenvernichtungswaffen] seien vorhanden", so Dr. Blix. "Doch diese Behauptung von Herrn Blair war eben nur eine Behauptung, die in keiner Weise belegt war. Die damalige britische und US-amerikanische Regierung ersetzten Fragezeichen durch Ausrufungszeichen. Ich bin davon überzeugt, dass diese Auslegung falsch war."
Blix sprach darüber, wie Blair und die frühere britische Regierung aus vagen Einschätzungen unverrückbare Tatsachen machten. Beispielsweise gaben führende Köpfe der Nachrichtendienste am 15. März 2002 folgende Einschätzung ab: "Die Informationen über irakische Massenvernichtungswaffen und ballistische Raketen sind sporadisch und lückenhaft." Drei Wochen später behauptete der ehemalige Premierminister im Brustton der Überzeugung: "Wir wissen, dass er [Saddam Hussein] große Mengen an chemischen und biologischen Waffen hortet."
Erstaunt über diese Darstellung sagte ich schließlich zu Dr. Blix: "Das ist absolut verheerend. Sie behaupten also, dass Herr Blair die Unwahrheit gesagt hat; dass er zur Begründung eines rechtswidrigen Kriegs das britische Parlament belogen hat?"
Er hielt einen Moment inne und fuhr dann fort: "Ich bin Diplomat und würde das so nicht formulieren. Aber im Kern haben Sie Recht. Man hat unsere Erkenntnisse verfälscht dargestellt, um einen Beschluss zu erwirken, der niemals hätte erwirkt werden dürfen."
Lügen, Verzögerungen und ein nationales Armutszeugnis
Blix' Darstellung erfolgte, noch bevor Tony Blair gegenüber CNN behauptete, er habe damals "falsche" Informationen erhalten. Laut Hans Blix täuschte Tony Blair die britische Öffentlichkeit und das Parlament mit einer falschen Darstellung der ihm vorliegenden nachrichtendienstlichen Erkenntnisse.
Mein Gespräch mit Dr. Blix war der Höhepunkt meiner Suche nach der Wahrheit in der Frage, wie es zum Einmarsch Großbritanniens in den Irak kommen konnte. Der Veröffentlichungstermin des Irak-Untersuchungsberichts von John Chilcot wurde zuletzt immer wieder verschoben.
Im Vorfeld wurde bereits gemutmaßt, Chilcot könne seinen Bericht bis zum Jahr 2017 herauszögern. Dies entspräche einer Verzögerung um sieben Jahre oder einer vollen Dekade nach Abzug der letzten britischen Truppen aus dem Irak im Jahr 2007. Die Verzögerung der vom damaligen Premierminister Gordon Brown 2009 beauftragten Untersuchung ist mittlerweile zu einem nationalen Skandal geworden.
Daher habe ich mich an die BBC gewandt und um Genehmigung zur Durchführung eigener Untersuchungen gebeten. Ich verwies darauf, dass die meisten Aussagen vor der Chilcot-Kommission öffentlich zugänglich seien. Ich schlug zudem vor, eigene Zeugen zu befragen. Die BBC stimmte zu. Ein Produzent, ein Wissenschaftler und ich hatten in dem Bericht Antworten auf die entscheidenden Fragen zur Beteiligung am Irakkrieg gesucht. Die Ergebnisse wurden am 29. Oktober 2015 auf BBC Radio 4 ausgestrahlt.
Was wir wissen müssen
Als Basisinformation zu unserer Arbeit bat ich meinen Freund Dr. David Morrison, Hintergrundinformationen zu den vier folgenden Schlüsselfragen zu verfassen. Diese wurden auf OpenDemocracy veröffentlicht:
Frage 3: War der Krieg rechtmäßig?
Frage 4: Führte unsere Militäraktion im Irak zu einer größeren terroristischen Bedrohung Großbritanniens?
Ich kenne Dr. Morrison seit mehr als zwölf Jahren. 2003 las ich seine Eingabe an den Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten, als dieser einen Bericht zum Irakkrieg verfasste. Der Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten ignorierte die sehr stichhaltigen Argumente von Dr. Morrison und veröffentlichte das Papier lediglich als Aktennotiz zu seinem eigenen Bericht.
Dieses Papier sowie ein weiteres über die Erkenntnisse des Ausschusses sind noch heute lesenswert, belegen sie doch zweifelsfrei, dass Tony Blair die britische Öffentlichkeit in Bezug auf die Bedrohung durch Saddam Hussein mit dem Ziel in die Irre führte, einen Kriegsgrund zu finden.
Ich habe nicht alle Argumente von Morrison übernommen. Doch seine Ausführungen bildeten eine wertvolle Grundlage für unsere Arbeit, da er die bemerkenswerte Fähigkeit besitzt, sich strikt auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren.
Die Dokumente verdeutlichen sehr klar die Fakten, die jeder kennen sollte, der den Bericht der Chilcot-Kommission fundiert beurteilen will. Ich fasse die schwerwiegendsten Punkte von Morrison nachfolgend zusammen.
Falsche Informationswiedergabe durch Tony Blair
Am 14. Februar 2003 erklärte Hans Blix gegenüber dem UN-Sicherheitsrat: "Viele geächtete Waffen und Stoffe wurden nicht angezeigt. Aus einem vom Irak vorgelegten Dokument entnahmen wir beispielsweise, dass etwa 1.000 Tonnen chemischer Stoffe 'nicht angezeigt' wurden. Daraus darf man jedoch nicht ableiten, dass diese vorhanden sind."
Dennoch erklärte Tony Blair einen Monat später, am 18. März, gegenüber dem Parlament: "Als die Inspektoren 1998 ausreisten, berichteten sie über die fehlende Anzeige von 10.000 Litern Milzbrand-Erreger; ein weitreichendes VX-Nervengasprogramm; bis zu 6.500 Stück chemische Munition; mindestens 80 Tonnen Senfgas, wobei die wahre Menge mehr als das Zehnfache betragen könnte; eine nicht bezifferte Menge an Sarin, Botulinumtoxin sowie eine Reihe weiterer biologischer Gifte und ein komplettes Scud-Raketenprogramm. Man verlangt jetzt von uns, ernsthaft zu glauben, dass Saddam in den zurückliegenden Jahren beschlossen hat, diese Waffen auf eigene Initiative zu zerstören – entgegen aller bisherigen Erfahrungen und Erkenntnisse. Das ist doch augenscheinlich absurd."
Tony Blair stellte es als erwiesen dar, dass das von den Inspektoren als "nicht angezeigt" eingestufte Material tatsächlich existierte. Hiermit hat er das Unterhaus ernsthaft getäuscht. Zudem versäumte es Blair zu erwähnen, dass seine eigenen Nachrichtendienste darauf hingewiesen haben, dass, sofern Saddam tatsächlich solche Waffen besäße, diese mittlerweile kaum noch brauchbar sein dürften. Tony Blair stellte es stattdessen als erwiesen dar, dass das von den Inspektoren als "nicht angezeigt" eingestufte Material tatsächlich existierte. Hiermit hat er das Unterhaus ernsthaft getäuscht.
Laut einem Bereich des "Internationalen Instituts für Strategische Studien" (IISS) aus dem Jahr 2002 dürfte ein Großteil der von Blair angeführten irakischen Bestände an chemischen und biologischen Kampfmitteln aus der Zeit vor dem Golfkrieg – sofern überhaupt vorhanden – alterungsbedingt nicht mehr für den Kriegseinsatz geeignet sein. Die Regierung selbst stufte wenige Wochen später in einem eigenen Dossier den Bericht des IIS als "unabhängige und fundierte Darstellung" ein.
Unter anderem hielt der IISS-Bericht Folgendes fest: "In der Praxis würde jedes Nervengas aus dieser Zeit [vor 1991] mittlerweile kaum noch brauchbar sein..." Zudem heißt es dort: "Vom Irak vor 1991 hergestelltes VX hat sich wahrscheinlich in den letzten zehn Jahren zersetzt... Bestände an G- und V-Kampfmitteln, die der Irak vor den Inspektoren der Sonderkommission der Vereinten Nationen (UNSCOM) verborgen hielt, dürften mittlerweile kaum noch brauchbar sein. Zwischen 1989 und 1990 hergestelltes Botulinumtoxin wäre nicht mehr einsatzbereit."
Nichts davon teilte der Premierminister den Abgeordneten am 18. März 2003 mit, als diese für den Krieg stimmten.
Der Irakkrieg machte Großbritannien gegen terroristische Angriffe verwundbarer
Im Vorfeld des Irakkriegs wurde die Regierung Blair wiederholt von Nachrichtendiensten gewarnt, dass ein Einmarsch in den Irak die Gefahr terroristischer Angriffe auf britischem Boden drastisch erhöhen würde und von Al-Qaida sowie anderen Extremisten in aller Welt als Rekrutierungsinstrument genutzt würde.
Sir David Omand, von Juni 2003 bis April 2005 Sicherheits- und Geheimdienstkoordinator der Regierung, gab gegenüber der Chilcot-Kommission an, dass der "Gemeinsame Geheimdienstausschuss" (Joint Intelligence Committee / JIC) "die Auffassung vertritt, eine Aufrüstung in der Golfregion vor einem Angriff auf den Irak würde die feindselige Haltung der Öffentlichkeit gegenüber dem Westen und westlichen Interessen verschärfen".
Weiterhin sagte er, der JIC "hat davor gewarnt, als Reaktion auf Militäraktionen der Koalition könnten AQ [Al-Qaida] und andere islamistische Extremisten Angriffe ausführen. Wir [die Nachrichtendienste] wiesen darauf hin, dass AQ einen Angriff auf den Irak als Rechtfertigung ... für Terrorangriffe gegen den Westen oder gegen israelische Ziele nutzen würde. Wir wiesen darauf hin, dass AQ in seiner Propaganda US-geführte Operationen bereits als Krieg gegen den Islam darstellt und dass diese Ansicht von vielen Muslimen geteilt wird."
"Angriffe der Koalition, so unsere Stellungnahme, würden eine weitere Radikalisierung auslösen [und] die Bedrohung durch AQ würde sich bei jedem Angriff auf den Irak vergrößern. Im Falle eines Krieges sei mit einem höheren Bedrohungspotenzial und einer Zunahme der terroristischen Aktivitäten zu rechnen."
Eliza Manningham Buller, seinerzeit Generaldirektorin des Inlandsgeheimdienstes MI5, sagte gegenüber der Chilcot-Kommission, dass der Irakkrieg die terroristische Bedrohung insgesamt "erheblich" verschärfte, mit der der MI5 und die übrigen Nachrichtendienste zu kämpfen hätten. Sie verwies auf eindeutige Beweise für diese Einschätzung, wie beispielsweise die "Anzahl von Verschwörungen, die Anzahl von Hinweisen, die Anzahl identifizierter Personen und deren Korrelation mit dem Irak sowie auf Aussagen von Menschen darüber, warum sie hierin verwickelt waren, und Gespräche zwischen diesen Menschen über ihre Aktivitäten".
"Angriffe der Koalition, so unsere Stellungnahme, würden eine weitere Radikalisierung auslösen [und] die Bedrohung durch AQ würde sich mit einem Angriff auf den Irak vergrößern (Sir David Omand)."
"2003 hielt ich es für notwendig, den Premierminister um eine Verdoppelung unseres Budgets zu bitten", so Manningham Buller. "Das dürfte bis heute nicht bekannt sein, doch er und der Schatzkanzler sowie der Kanzler kamen meinem Wunsch nach, da ich das Ausmaß der Schwierigkeiten belegen konnte, mit denen wir konfrontiert waren."
Im Vorfeld des Krieges war die Regierung Blair sehr daran interessiert, die Einschätzung der Nachrichtendienste zur Bedrohung durch irakische "Massenvernichtungswaffen" öffentlich bekannt zu machen. Ganz anders verhielt es sich mit der Warnung der Nachrichtendienste, dass die Beteiligung Großbritanniens an militärischen Aktionen gegen den Irak die Bedrohung durch Al-Qaida erhöhen würde. Wären die Abgeordneten über diese Einschätzungen am 18. März 2003 informiert gewesen, hätten sie möglicherweise kein grünes Licht für Militäraktionen gegeben.
An dem besagten Tag informierte Tony Blair das Parlament nicht darüber, dass Al-Qaida seine mörderischen Aktivitäten in Großbritannien wahrscheinlich ausweiten würde, sollten die Abgeordneten für den Irakkrieg stimmen. Im Gegenteil: Er sagte ihnen, dass die Entscheidung für den Krieg eine Entscheidung für den Kampf gegen Al-Qaida sei, dass der Sturz von Saddam Hussein eine künftige Allianz zwischen Saddam und Al-Qaida verhindern werde – eine Allianz, durch die Al-Qaida in den Besitz von 'Massenvernichtungswaffen' käme."
"Gebt den Franzosen die Schuld"
Am 18. März 2003 behauptete Tony Blair, Frankreich habe die Unterstützung einer zweiten UN-Resolution unterlaufen, die die Anwendung militärischer Gewalt zur Entwaffnung Saddam Husseins erlaubt hätte. Vor dem Unterhaus sagte er: "Letzten Montag [10. März] standen wir ganz kurz vor der Verabschiedung der [zweiten Resolution]. Wir waren ganz knapp vor Erlangung der Mehrheit ... Montagnacht kündigte dann Frankreich ein bedingungsloses Veto gegen eine zweite Resolution an."
Tatsächlich aber hat Frankreich nichts dergleichen getan. Im Gegenteil: In einem Interview mit dem damaligen französischen Präsidenten Chirac stellte dieser klar, dass es bestimmte Umstände gebe, unter denen Frankreich kein Veto gegen eine Resolution zur Anwendung militärischer Gewalt einlegen werde.
Zu Beginn desInterviews verwies Chirac auf zwei verschiedene Szenarien: Eines, bei dem die UN-Inspektoren Fortschritte meldeten und ein zweites, bei dem die Inspektoren ihrer Aufgabe nicht nachkommen könnten. Im letzteren Fall wäre - so Chirac - "ein Krieg leider unvermeidlich". Im Wortlaut heißt es:
"Entweder, die Inspektoren sagen uns: 'Wir können weiterarbeiten und werden in einigen Monaten – ich sage bewusst "einige Monate", denn das ist mir [von den Inspektoren] so gesagt worden – unsere Arbeit beendet haben und der Irak wird entwaffnet sein‘. Oder aber sie werden dem Sicherheitsrat sagen: 'Es tut uns leid, aber der Irak kooperiert nicht. Wir erzielen keine ausreichenden Fortschritte. Wir können unser Ziel nicht erreichen und werden die Entwaffnung des Iraks nicht gewährleisten können'. In diesem Fall ist der Sicherheitsrat am Zug und er alleine entscheidet, was zu tun ist. Allerdings wird der Krieg in diesem Fall leider unvermeidlich sein. Doch zurzeit ist er das nicht."
Tony Blair erteilte seinem 'Spin-Doctor' Alastair Campbell "den Marschbefehl, die antifranzösische Karte gemeinsam mit der Boulevardzeitung 'The Sun' und anderen zu spielen".
Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass Frankreich kein Veto gegen militärische Maßnahmen einlegen würde, sollten die UN-Inspektoren melden, dass sie ihrer Aufgabe nicht nachkommen können. Diese Meldung gab es jedoch nie. Im Gegenteil: Hans Blix sagte in der Chilcot-Untersuchung 2010 aus, dass den Inspektoren Zugang zu allen Orten gewährt worden sei, die sie besuchen und inspizieren wollten: "In keinem Fall wurde uns der Zugang verwehrt".
Der britischen Öffentlichkeit wurde allerdings eine andere Version erzählt. Nach dem Interview mit Chirac am 11. März 2003 entschied Tony Blair, Frankreich für das Scheitern des gemeinsamen Vorstoßes der USA und Großbritannien verantwortlich zu machen, der dazu dienen sollte, zwei weitere Mitglieder des UN-Sicherheitsrats (Spanien und Bulgarien) für den Kriegseintritt zu gewinnen.
Wir wissen dies aufgrund der Aussage Stephen Walls vom 19. Januar 2011 vor der Chilcot-Kommission. Stephen Wall war von 2000 bis 2004 EU-Berater von Tony Blair. Walls bestätigte, dass er an dem besagten Tag dabei war, als Tony Blair in seinem Amtssitz in der Downing Street Alastair Campbell "den Marschbefehl [gab], die antifranzösische Karte gemeinsam mit der 'Sun' und anderen zu spielen".
Diese Aussage vor der Chilcot-Kommission lässt kaum Zweifel an der Tatsache zu, dass die Regierung Blair das Parlament und die britische Öffentlichkeit mit dem Ziel getäuscht hat, einen rechtswidrigen Krieg zu führen, in dem 179 britische Soldaten und mehrere Hunderttausend irakische Zivilisten starben.
Der Einmarsch in den Irak sollte ein Schlag gegen den internationalen Terrorismus sein. Fakt ist jedoch, dass die terroristische Bedrohung Großbritanniens aufgrund der Entscheidung, in den Irak einzumarschieren, um ein Vielfaches gestiegen ist.
Peter Oborne
© OpenDemocracy 2016
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers