Plädoyer für einen wertepluralen Islam

Gehört der Islam zu Deutschland? Oder nur die Muslime? Lässt sich das überhaupt trennen? Und welche Ausprägungen der Religion wollen wir in Deutschland haben? Diese Debatte ist so alt wie die Begegnung deutscher Nicht-Muslime mit der muslimischen Welt. In den letzten Jahrzehnten hat sie an Dynamik und Sprengkraft gewonnen. Die Fragen polarisieren.
Nun meldet sich der österreichische Journalist Teseo La Marca mit einem Debattenbeitrag zu Wort. In seinem Sachbuch „Die fehlgeleitete Islamdebatte und ihre Folgen“ nimmt er die Islamdebatte, wie sie in Deutschland geführt wird, unter die Lupe und unterzieht sie, so der Untertitel seines Buches, einem „Realitätscheck“.
In der Debatte, so La Marca, laufe einiges schief. Gefangen zwischen zwei Extremen – islamfeindlichen Vorurteilen und gut gemeinten Verharmlosungen – gebe es keine Mitte. Dadurch liefere sie einen perfekten Nährboden, auf dem sich islamischer Fundamentalismus ausbreite. Reflektierte Stimmen verstummten, während radikale Stimmungsmacher den innermuslimischen Diskurs dominierten.
Deutschland, argumentiert La Marca, habe noch nicht gelernt, „kritisch und zugleich respektvoll über den Islam zu sprechen“. Folglich fordert er einen dritten Weg und einen differenzierten Blick: „wohlwollend und möglichst vorurteilsfrei, aber auch nicht blind gegenüber bedrohlichen Realitäten im Islam“.

Alte Fragen – bekannte Antworten
Dabei verfolgt der Autor – der, wie er schreibt, aus eher pragmatischen Gründen selbst zum Islam konvertierte – einen persönlichen Ansatz. In bildlichen, teils lustigen Szenen beschreibt er seine eigenen Begegnungen mit der islamischen Welt, seine Eindrücke und Reflexionen bei seiner Recherche, die ihn in den Iran, auf Pilgerreise in den Irak und in viele Moscheen in Deutschland führte.
Das Buch mit seinen sechs Kapiteln hat zwei Schwerpunkte. Im ersten Teil macht der Autor es sich zur Aufgabe, auf die Fragen, die ihn umtreiben, historische und theologische Antworten zu suchen. Diese sind allerdings weder im Islamdiskurs noch in der Islamwissenschaft neu:
Hat islamistischer Fundamentalismus so gar nichts mit dem Islam an sich zu tun? Warum ist der Islam so anfällig für Interpretationen, die mit Demokratie und Säkularismus nicht kompatibel sind? Sind der real gelebte Islam und eine offene Gesellschaft miteinander vereinbar?
Und auch die Antworten, die La Marca gibt, sind nicht neu: Islamistischer Fundamentalismus habe – entgegen der Meinung vieler moderater Muslime und islamfreundlicher Nicht-Muslime in Europa – sehr wohl etwas mit dem Islam zu tun.
Weltweit würden heute fundamentalistische Auslegungen der Religion überwiegen. Eingewanderte brächten, so La Marca in Anlehnung an den Soziologen Ruud Koopmans, die Missstände in ihren Herkunftsländern auch in den Westen.
Fehlende Differenzierung
Zurecht kritisiert La Marca Aspekte wie die desolate Menschenrechtslage, die fehlende Pressefreiheit und das Demokratiedefizit, unter denen Menschen in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit leiden.
Doch in der Diskussion in Deutschland kann es nur zu kurz greifen, wenn er dabei weder politische oder soziologische Entwicklungen noch patriarchale Strukturen einbezieht, sondern die Missstände wie auch die Radikalisierung von Muslimen in Deutschland vorrangig auf die Religion zurückführt – und dabei mit einer ungenannten Koranübersetzung arbeitet und nicht auf die Tafsir-Tradition, die Exegese islamischer Quellen, verweist.

Der Koran – jetzt auch auf Samoanisch und Shona
Die Welt besinnt sich auf ihr Kulturerbe und damit auch auf ihre Minderheiten. Ein Phänomen dieser Zeit sind Koranübersetzungen in marginalisierte Sprachen. Das dient oft politischen Zielen – aber rettet manch eine Sprache vor dem Aussterben.
Während La Marca – zurecht – eine fehlende Differenzierung des Islamdiskurses in Deutschland bemängelt, wird er auch seinem eigenen Anspruch nicht gerecht, wenn er an anderer Stelle den Fundamentalismus in Pakistan, Iran, Saudi-Arabien, Türkei, Nigeria, Afghanistan in einem Satz erwähnt, ohne auf die unterschiedlichen Ausprägungen einzugehen.
Genauso, wenn er eine differenzierte Betrachtung der Weltreligion fordert, aber gleichzeitig über eine „islamische Mentalität“ schreibt, der er unter anderem Eigenschaften wie Gastfreundschaft, Großzügigkeit, Toleranz und Nächstenliebe zuschreibt.
Forderung nach einem Euro-Islam
Auch La Marcas Plädoyer für eine Aufklärung des Islam nach europäischem Vorbild ist nicht neu und im Übrigen umstritten, hat doch zum Beispiel der britische Journalist Christopher de Bellaigue dargelegt, dass die geforderte Modernisierung der islamischen Welt sehr wohl stattgefunden hat, im westlichen Geschichtsbild jedoch ein blinder Fleck besteht.
Genauso wenig neu ist La Marcas Aussage, die innermuslimische Debatte liege brach. Daher könne und müsse in Europa – wie bereits der deutsch-syrische Soziologe Bassam Tibi in den 2000er Jahren sagte – ein sozialer und liberaler Islam entstehen. Denn dies, behauptet La Marca, scheine in den historischen Heimatländern aktuell undenkbar.
Tatsächlich entwickelte auch etwa der algerisch-französische Philosoph Mohammed Arkoun seine „Kritik der islamischen Vernunft“ in Frankreich. Doch gibt es durchaus auch in mehrheitlich muslimischen Ländern erwähnenswerte Bewegungen wie die um den türkischen Theologen und Soziologen Ali Bulaç, der versucht, Islam und Moderne zu vereinen. Oder die türkische Bewegung der „Antikapitalistischen Muslime”, das aktuelle Engagement indonesischer Imame für den Umweltschutz ebenso wie die islamisch-feministische Bewegung in der Türkei, die alle Teil der innermuslimischen Debatten in islamischen Ländern sind.
Die Einwanderungsdebatte entislamisieren
Warum die innermuslimische Debatte in Deutschland aber längst nicht so rege ist, wie sie sein könnte, darum geht es im zweiten Teil des Buches, der weitaus konkreter und treffender ist.
Anschaulich beschreibt der Autor die Herausforderungen für Muslime in Deutschland, die häufig einseitige Medienberichterstattung zum Thema, Probleme, die mit dem Verfassungsschutz zusammenhängen, strukturellen Rassismus, den allgemein sich immer weiter verengenden Diskurs sowie die Versäumnisse und Absurditäten der Debatte, bei der sich extrem linke und extrem rechte Positionen treffen.
Zurecht fordert La Marca die „Entislamisierung der Einwanderungs- und Integrationsdebatte und einen Fokus auf politische, nicht religiöse Differenzen“. Seine Leserschaft lässt er jedoch mit der Frage zurück, ob er nicht genau das in seinem Eingangskapitel selbst getan hat.
Dennoch bereichert La Marca die Debatte in Deutschland, zeigt er doch im ersten Teil des Buchs den nach wie vor aktuellen Fragenkomplex, der nur in einem ständigen Austausch weiter erörtert werden kann. Im zweiten Teil liefern seine Vorschläge einen konkreten Fahrplan, wie ein, wie er es nennt, Weg der „wachsamen Gelassenheit“ aussehen kann, um einen wertepluralen Islam zu fördern.
Während La Marca zurecht das dogmatische und politische – und man möchte hinzufügen: das weltweit patriarchale –Religionsverständnis kritisiert, wünscht er sich eine in der Bevölkerung breiter und tiefer verankerte Allgemeinbildung zum Islam. Das gilt für Nicht-Muslime genauso wie für Muslime.
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