Ein stabiles Land sieht anders aus
Dramatischer hätte der Abgang der US-Truppen nach fast neun Jahren im Irak nicht sein können. Nur wenige Stunden nachdem der letzte GI symbolisch das Tor zwischen Irak und Kuwait geschlossen hatte und damit die Operation "Morgendämmerung" beendet war, brach in Bagdad die Regierungskoalition zusammen.
Vier Tage zuvor hatte US-Präsident Barack Obama auf einem Militärstützpunkt in North Carolina, wohin die meisten der im Irak stationierten US-Soldaten zurückkehren, das Ende des Krieges zwischen Euphrat und Tigris verkündet. Sie würden erhobenen Hauptes gehen und ein stabiles Land hinterlassen.
Es sieht ganz danach aus, dass Obama diesen Satz noch bereuen wird, so wie sein Vorgänger George W. Bush bereuen muss, dass er vorschnell am 1. Mai 2003 das Ende der Kampfhandlungen verkündete. "Mission accomplished" – "Mission erfüllt" – stand damals in großen Lettern hinter dem Rednerpult des Präsidenten. Doch danach ging der Krieg erst richtig los. Fast 4.500 Amerikaner und über 100.000 Iraker mussten seitdem sterben. Eine Billion US-Dollar hat Washington für diesen Krieg ausgegeben.
Nach dem nun tatsächlichen Ende der Kampfhandlungen überschlagen sich im Irak die Ereignisse. Zuerst verließen die Abgeordneten des Iraqia-Blocks das Parlament, dann ihre Minister die Regierung. Danach wurde ein Haftbefehl gegen den Vizepräsidenten, Tarek al-Hashemi erlassen und schließlich Saleh al-Mutlak, der irakische Vize-Premier, entlassen.
Ein Land in Scherben
Auffällig ist: die Betreffenden sind alles Sunniten, während der Verantwortliche für das Chaos Premier Nuri al-Maliki, ein Schiit, ist. Die geglättet geglaubten Wogen zwischen den beiden Religionsgruppen, deren Auseinandersetzungen in den schlimmen Terrorjahren 2006/07 so viel Blut gekostet haben und mit unvergleichlicher Brutalität geführt wurden, schwellen wieder an.
Der vermeintlich gelöste Konflikt kocht wieder hoch. Jetzt wird deutlich, dass die Vermittlertätigkeit der Amerikaner in den letzten beiden Jahren wichtiger war, als man es wahrhaben wollte. Am Mittwochnachmittag (21.12.) wurde bekannt, dass US-Vizepräsident Joe Biden bereits mit Maliki telefonierte und mäßigend auf ihn einredete. Drei Tage nach dem kompletten Abzug der Amerikaner liegt das politische Bagdad in Scherben. So blieb für viele Bagdader ein mulmiges Gefühl übrig, als der letzte US-Soldat das Land verließ. Gefeiert wurde nirgends in der Hauptstadt.
Nicht nur innerhalb der Bevölkerung werden derzeit Stimmen lauter, Maliki verhalte sich wie Saddam Hussein, sondern auch bei seinen Koalitionspartnern. Ijad Allawi, Premierminister der ersten Übergangsregierung und größter politischer Rivale Malikis, nannte die Vorwürfe gegen Vizepräsident Hashemi "fabriziert". Es erinnere ihn stark an den Ex-Diktator, der seine politischen Gegner als Terroristen und Verschwörer beschuldigte, um sie aus dem Weg zu räumen.
Maliki wirft Hashemi vor, er habe Terror unterstützt und finanziert und sei an einem Anschlag im Regierungsviertel Ende November beteiligt gewesen, bei dem eine Bombe in unmittelbarer Nähe des Parlaments explodierte und auch den Sitz des Premiers treffen sollte. Dafür wurden Geständnisse dreier Leibwächter Hashemis zuerst in der Tageszeitung "Al Dustur" abgedruckt und danach im Staatsfernsehen veröffentlicht.
Allawi und sein Iraqia-Block, dem auch Hashemi und Mutlak angehören, fühlen sich einer Schmutzkampagne ausgesetzt. Zwar konnten sie bei den Parlamentswahlen im letzten Jahr die meisten Stimmen erringen, doch reichte es nicht zu einer regierungsfähigen Mehrheit. Maliki blieb Premierminister.
Während die Amerikaner sich bei den über acht Monate dauernden Koalitionsverhandlungen für eine Einheitsregierung unter Einbindung aller politischen Kräfte stark gemacht haben, wollte Maliki schon damals eine Mehrheitsregierung mit der radikalen Schiitenpartei Moktada al-Sadrs und den Kurden ohne Allawi und sein Iraqia-Block eingehen.
Das scheint er jetzt ohne Präsenz der Amerikaner gnadenlos durchsetzen zu wollen. Nicht umsonst haben gerade die Sunniten sich in letzter Zeit für einen weiteren Verbleib der Amerikaner im Irak ausgesprochen, obwohl der anfänglich irakische Widerstand gegen die Besatzungsmacht vornehmlich sunnitisch geprägt war.
Exil im eigenen Land
Um der Verhaftung in Bagdad zu entgehen, hat sich Tarek al-Hashemi in den kurdischen Norden des Landes geflüchtet – nach Suleimanija, der Heimatstadt des irakischen Präsidenten Jalal Talabani, dessen Stellvertreter Hashemi ist. Exil im eigenen Land: dieses Phänomen ist wohl einmalig. Denn Bagdads Arm reicht nicht in die autonome kurdische Provinz. Die Kurden haben dort ihre eigene Polizei und Armee, ein von Bagdad unabhängiges Regionalparlament und eine eigene Gerichtsbarkeit.
Das Begehren Malikis, Hashemi nach Bagdad zu überstellen, wird strikt abgelehnt. Hashemi seinerseits erklärte sich bereit, vor einem Gericht in der Kurdenprovinz zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Die Konfrontation mit Maliki weitet sich also aus. Es sieht aus, als ob sein langjähriger Koalitionspartner, die Kurdenallianz, jetzt auch von ihm abrückt.
Eigentlich haben seit der Entstehung des modernen Irak durch die britische Mandatsmacht in den 1920er Jahren gerade die Sunniten stets für die Einheit des Landes gekämpft – gegen kurdische Separationswünsche und schiitische Politikverdrossenheit. Das Referendum aus dem Jahr 2005 über die neue Verfassung nach dem Sturz Saddam Husseins haben die meisten Sunniten boykottiert – auch mit dem Argument, dass der darin festgeschriebene Föderalismus ein Auseinanderbrechen Iraks bedeute, wofür man nicht verantwortlich sein wolle.
Die Verfassung gibt den Provinzen die Möglichkeit, autonome Regionen in einem föderalen Staat zu bilden, ganz nach dem Vorbild der drei kurdischen Provinzen im Nordosten des Landes. Es waren denn auch die Kurden mit Unterstützung der Schiiten, die diese Verfassungsklauseln durchsetzten.
Kurdisches Autonomiestreben
Nun aber wollen mehr und mehr sunnitisch dominierte Provinzen von diesem Recht Gebrauch machen. Sie sehen darin eine Chance, sich von der schiitisch dominierten Zentralregierung loszulösen, die ihnen keine ausreichende Partizipation im politischen Prozess geben will.
So überraschte die Provinz Salaheddin Anfang November mit dem Beschluss des Provinzrates in Tikrit, Saddam Husseins Heimatstadt, eine "unabhängige Region im vereinten Irak" gründen zu wollen: 20 von 28 Mitgliedern stimmten für die Autonomie.
Die Provinz Dijala, nordöstlich von Bagdad, will dem Beispiel folgen. Und selbst die südlichen, meist schiitischen Provinzen Najaf, Kerbela, Basra, Maysan und Muthanna streben – als Ergebnis der Provinzräte – nun die Gründung einer autonomen Südprovinz an. Ein stabiles Land sieht anders aus.
Birgit Svensson
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de