Letzte Chance
In Syrien tobt Bürgerkrieg, in Ägypten unterdrückt die Militärregierung Kritik, Opposition und Muslimbrüder, und Libyen zerfällt in kleine Gebiete, in denen Stämme oder religiöse Gruppen die Macht haben. Der Arabische Frühling scheint gescheitert zu sein.
In seinem Ursprungsland jedoch ist noch alles offen. Tunesien kann sich noch zur Demokratie oder zur Diktatur entwickeln. Verfestigt sich die Demokratie, wäre das der Beweis, dass sie auch in der arabischen Welt möglich und mit dem Islam vereinbar ist. Fällt das Land hingegen zurück in eine wie auch immer geartete Autokratie, wird lange Zeit der Mut zu einem neuen demokratischen Aufstand in der gesamten Region fehlen.
Europa hat ein Interesse an demokratischer Herrschaft an allen Ufern des Mittelmeers. Die EU sollte alles tun, um den positiven Wandel in Tunesien zu unterstützen. Falsch wäre es sicherlich, wenn sich westliche Politiker in interne Machtkämpfe einmischten. Tunesier reagieren empfindlich auf Bevormundung durch Europa, also würde eine allzu deutliche Parteinahme sie eher ins islamistische Lager treiben.
Keine schnelle Trendwende zu erwarten
Die Tunesier werden die Demokratie aber auf Dauer nur wollen, wenn diese sich irgendwann auch wirtschaftlich und sozial auszahlt. Für viele hat sich die Lage seit dem Sturz von Ben Ali vor fast drei Jahren eher verschlechtert.
Eine schnelle Trendwende ist nicht zu erwarten; nötig ist aber die Aussicht auf mittel- bis langfristige Besserung. In Osteuropa verlief die Transformation nach dem Ende des Kalten Krieges erstaunlich friedlich und geradlinig – obwohl sich die soziale Lage großer Teile der Bevölkerung vorübergehend deutlich verschlechterte. Es war deshalb wichtig, dass die Menschen eine verheißungsvolle Perspektive hatten: die Aufnahme in die EU.
Viel spräche dafür, heute auf ähnliche Weise Tunesien die EU-Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. Das Land ist so klein, dass es problemlos integrierbar wäre. Die Aussicht auf die ökonomischen Vorteile der Mitgliedschaft würden vermutlich viele Skeptiker im islamistischen Lager Tunesiens disziplinieren. Zumindest dürften diese Probleme haben, dem Volk zu erklären, warum es auf eine bessere Zukunft in der EU verzichten soll. Selbstverständlich wäre eine stabile Demokratie Beitrittsvoraussetzung.
Wird Tunesien erst einmal demokratisch regiert, könnte es anderen arabischen Ländern Vorbild sein. Die Idee der Demokratie würde in der Region nicht mehr erlöschen. Und die EU könnte zeigen, dass ihre Fundamente Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind – nicht Religion. Genau das ist aber auch schwierig:
Erstens würden auch andere arabische Länder Aufnahme in die EU fordern. Ganz vorne dabei wäre Marokko, das schon einmal Kandidat für die Mitgliedschaft war, aber noch immer von einem König beherrscht wird, dem ein Viertel der Privatwirtschaft persönlich gehört und der gerade viele Liberalisierungen der letzten Jahre zurücknimmt.
Zweitens besteht in der EU keinesfalls Einigkeit darüber, dass deren Fundamente ausschließlich säkularer Natur sind. Konservative Kräfte sprechen gern vom "christlich-jüdischen Abendland", obschon in einigen EU-Staaten Christen längst nicht mehr die Mehrheit stellen, und Christentum und Judentum jahrhundertelang streng getrennt wurden.
Eine privilegierte Partnerschaft?
Die Aufnahme Tunesiens in die EU wäre sicherlich derzeit in vielen EU-Ländern nach innen nicht vermittelbar. Es spricht aber nichts dagegen, dem Land eine privilegierte Partnerschaft anzubieten. Die vollständige Öffnung des EU-Marktes für tunesische Produkte sollte schnellstmöglich erfolgen.
Zwar besteht bereits ein Freihandelsabkommen; es nimmt aber zahlreiche Agrarerzeugnisse und Dienstleistungen aus, bei denen Tunesien konkurrieren kann. Beispielsweise werden einige Agrarprodukte nur in den Zeiten in die EU gelassen, in denen sie gerade in keinem Mitgliedsland geerntet werden.
Marktöffnung würde Tunesien ökonomisch helfen und Wachstum vor allem dort generieren, wo es am dringendsten benötigt wird: in arbeitsintensiven Branchen, die vor allem den Ärmeren Einkommenszuwächse bringen. Wenn die EU in der arabischen Welt eine ähnliche Soft Power entfalten will, wie ihr das in den 1990er Jahren in Osteuropa gelang, muss sie die Verhandlungen über Marktzugang, die sie mit Tunesien seit über einem Jahr führt, zügig vorantreiben.
Markus Loewe
© Zeitschrift Entwicklung & Zusammenarbeit 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Markus Loewe arbeitet als Wissenschaftler am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik.