Zwang zu Kompromissen
Bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung in Tunesien ging die gemäßigt islamistische Partei Ennahda als eindeutiger Sieger hervor. Wie bewerten Sie ihre bisherige Politik?
Imen Gallala-Arndt: Die Äußerungen der Ennahda haben anfänglich für viel Verwirrung gesorgt, weil sie zum Teil bedrohlich waren und Aussagen der Parteispitze zum Teil im Widerspruch zu Bekundungen anderer Mitglieder standen. Daher waren die Menschen im Land sowie auch andere politische Akteure sehr verunsichert. Zum Beispiel hat Sadok Chourou, einer der Hardliner innerhalb der Ennahda-Bewegung in der Verfassungsgebenden Versammlung, Personen angegriffen, die gegen die Regierung demonstriert haben, und dazu einen Vers aus der fünften Sure des Korans herangezogen, um seine Kritik zu untermauern. Die Demonstranten bezeichnete er als gottlos, sie würden in der Hölle landen.
Dass religiöse Argumente benutzt werden, um politische Gegner als Ungläubige zu bezeichnen, verunsichert natürlich. Auch dass der Ministerpräsident Hamadi al-Jabali vom "6. Kalifat" spricht, beunruhigt die Leute, da nicht klar wird, welche gesellschaftlichen Ziele er damit verfolgt.
Ennahda hat anfangs auch gefordert, die Scharia müsse die Quelle der Gesetzgebung sein, später hat sie diese Aussage jedoch wieder revidiert. Es sind jedoch genau solche Äußerungen, die die Bevölkerung verunsichern und die dazu führen, dass man die Partei schlecht einschätzen kann. Sie hat zwar bestimmte Prinzipien, die sie vertritt, aber da sie nun die Regierungsverantwortung übernommen hat, muss sie lernen, pragmatisch zu sein. Der Ennahda fehlt derzeit noch eine klare Linie.
In der westlichen Debatte wird die Scharia oft als unvereinbar mit rechtsstaatlichen Prinzipien gesehen. Wie steht es um die Vereinbarkeit von Scharia und Menschenrechten in den arabischen Umbruchstaaten?
Gallala-Arndt: Man muss bedenken, dass die Scharia im Laufe der Geschichte von Rechtsgelehrten unter Berücksichtigung der jeweiligen zeitlichen und lokalen sozialen und wirtschaftlichen Umstände entwickelt wurde. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was im islamischen Recht als Prinzip und was als ewige Wahrheit gilt und den Teilen der Scharia, die sich in einem Entwicklungsprozess befinden. In Tunesien wurde bereits 1956 die Polygamie abgeschafft, aber damals hat niemand behauptet, dass dies ein Bruch mit der Scharia darstellt. Ganz im Gegenteil: Man hat sich auf Prinzipien des islamischen Rechts berufen und damit beabsichtigt, im Interesse des Fortschritts zu handeln.
Es wurde anerkannt, dass sich die gesellschaftliche Position der Frau geändert hat und dass es im Interesse der Frau sowie der ganzen Familie ist, dass nun konsequenterweise auch die Rechtslage der Frau angepasst wird.
Wenn Islamisten an die Macht kommen, ist das nicht immer gleich ein Zeichen gegen die Frauen- oder Menschenrechte – es hängt immer vom politischen Willen der jeweiligen Herrscher ab. Sie können sich gleichzeitig auf die Scharia berufen, dabei aber durchaus fortschrittlich sein, indem sie die islamischen Rechtsquellen dynamisch interpretieren und Reformen im Rahmen der Scharia zulassen.
Aber es kommt natürlich darauf an, wer diese Interpretation vornimmt, oder?
Gallala-Arndt: Absolut. Genau darin liegt die Gefahr. Und das ist gewiss auch der Grund, warum man Angst davor hat. Es existiert keine verbriefte Sicherheit für Minderheiten, Frauen und schwächere Personen in der Gesellschaft. Diese sind mehr oder weniger abhängig vom guten Willen der Rechtsgelehrten. Sind diese ihnen wohl gesonnen, läuft es für die entsprechenden Personengruppen entsprechend gut, sind sie es nicht, haben die Benachteiligten keine rechtlichen Mittel in der Hand, um dagegen vorzugehen. Es fehlt hier an Objektivität, Sachlichkeit und Sicherheit für den Bürger. Dieser muss sich darauf verlassen können, dass seine Rechte gewährleistet und respektiert werden.
Können Sie ein konkretes Beispiel dafür nennen?
Gallala-Arndt: Ein Beispiel ist die Rechtssprechung des Obersten Verfassungsgerichtes in Kairo. Dieser unterscheidet in seiner Rechtsprechung auch zwischen den ewigen Prinzipien, die unveränderlich sind, und anderen, die flexibel angepasst werden können – je nach Zeit und Ort. Angelegenheiten der Erbteilung, für die koranische Quellen vorsehen, dass eine Frau nur halb soviel erhält wie ein Mann, werden in diesem Fall nicht in Frage gestellt. Dies wird also als unveränderliches Prinzip angesehen.
Jedes Gesetz, das auf die Gleichstellung von Mann und Frau im Erbrecht abzielt, wird damit als nicht verfassungsmäßig abgewiesen, da es gegen die Scharia verstoßen würde. Was hingegen die Frage der islamischen Bekleidung betrifft, hat das Verfassungsgericht entschieden, dass Bestimmungen darüber von Zeit und Ort abhängig sind. Daher hat es zum Beispiel die Regelung des Bildungsministers, der Schülerinnen die Vollverschleierung (Niqab) verboten hat, als verfassungsgemäß eingestuft.
In Tunesien tobte nach der Revolution eine Debatte um den weltlichen Charakter der neuen Verfassung. Wohin steuert diese Debatte?
Gallala-Arndt: Die Debatte über die Scharia als Gesetzgebungsquelle wurde gelöst, indem die Ennahda akzeptiert hat, dass diese nicht als solche in der Verfassung festgeschrieben wird. Das heißt, dass der Artikel 1 der Verfassung in seiner bisherigen Form übernommen wird. Darin heißt es lediglich, dass der Islam die Religion des Staates ist. Die Scharia findet also in der tunesischen Verfassung keine Erwähnung.
Libyen hat im Gegensatz zu Tunesien keinen Referenzrahmen für die Ausarbeitung einer Verfassung, politische Parteien oder NGOs gibt es so gut wie gar nicht. Kann Tunesien hier als Vorbild wirken?
Gallala-Arndt: Das kann Tunesien auf jeden Fall. Ein Beispiel dafür ist die Ausarbeitung der Wahllisten. Für diese wurde eine strikte Geschlechterparität festgeschrieben: Mann, Frau, Mann, Frau. Das haben die Libyer von Tunesien übernommen. Ein anderes Beispiel: In Tunesien hat sich eine Freundin von mir, die Rechtsprofessorin ist, zur Wahl gestellt, konnte dadurch Erfahrungen im Wahlkampf als Frau sammeln und arbeitet nun als Beraterin für das "United Nations Development Programme" (UNDP). Sie organisiert Workshops und Sensibilisierungskampagnen für Frauen, die sich in Libyen zur Wahl stellen wollen, um ihnen bestimmte Ratschläge zu erteilen, wie man sich als Frau behaupten und die Menschen erreichen kann.
Als Nachbarland ist Tunesien also bestimmt ein Vorbild, aber man muss die speziellen Eigenschaften der libyschen Gesellschaft berücksichtigen. Es handelt sich um eine Gesellschaft, die wegen der Schreckensherrschaft Gaddafis an einem großen Mangel an Institutionen leidet, sowie an politischer Debattenkultur überhaupt. Aber es gibt auch eine sehr gebildete Jugend und eine Elite, die den Wandel will. Ich bin daher durchaus zuversichtlich.
Die türkische AKP wird oft als Vorbild für die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam gehandelt. Ist sie das wirklich?
Gallala-Arndt: Ja, auf jeden Fall. Die Türkei hat zwar eine lange Tradition des Säkularismus, die wir nicht haben. Die Frau des Präsidenten Abdullah Gül trägt zwar Kopftuch und ist Muslima, aber das hat keine Auswirkungen auf die Politik, Menschenrechte oder andere religiöse Minderheiten. Die Türkei ist definitiv ein gutes Vorbild, nachdem es sich zu streben lohnt und das sehr inspirierend wirkt.
In Ägypten wirbt der Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei dafür, das deutsche Grundgesetz als Modell für eine neue Verfassung zu nutzen, vor allem in Hinblick auf die Verankerung der Grundrechte, wie die Meinungs- und die Religionsfreiheit. Ließe sich ein solches Modell übertragen?
Gallala-Arndt: Ich glaube, diese Grundrechte werden gewährleistet und in der Verfassung verankert, aber man muss natürlich auch mit den Muslimbrüdern und den Salafisten rechnen, deren Einfluss in Ägypten wesentlich stärker ist, als beispielsweise in Tunesien. Diese werden immer Auswege und rechtliche Schlupflöcher finden. Zum Beispiel sehen verschiedene Verfassungsentwürfe die Gewährleistung der Gleichstellung von Mann und Frau vor, betonen aber ausdrücklich, dass diese sich im Rahmen der islamischen Werte bewegen müsse.
Ich glaube nicht, dass in der momentanen Lage die Grundrechte, wie es sie in Deutschland gibt, tatsächlich in dieser Form auch in der ägyptischen Verfassung verankert werden. Ob wir wollen oder nicht, es wird eine Verfassung mit vielen Kompromissen sein. Auch die säkularen Kräfte müssen akzeptieren, dass der islamistische Einfluss darin seinen Widerhall finden wird. Die Muslimbrüder sind im Parlament in der Mehrheit vertreten und auch die Gesellschaft ist sehr religiös geprägt.
Welche Gefahren bestehen also für die Demokratisierungsprozesse in den Ländern des Arabischen Frühlings?
Gallala-Arndt: Die Islamisten können demokratisch sein. Die Gefahr sehe ich jedoch darin, dass sie, wenn sie an der Macht sind, Menschenrechte oder speziell Frauenrechte einschränken. Ich gehe aber trotzdem nicht davon aus, dass das gegenwärtig zum vorrangigen Problem werden könnte. Die momentane Lage in Tunesien und auch in Ägypten ist so kompliziert, dass es einen großen Bedarf an Konsenslösungen gibt. Die politischen Akteure müssen sich zunächst mit den wirtschaftlichen Problemen befassen und werden daher zu Kompromissen gezwungen sein.
Ich denke, dass die Situation der religiösen Minderheiten oder Frauen, auch wenn sie sich nicht zum Guten wenden, sich zumindest nicht verschlechtern wird. Auch auf diesem Gebiet ist zurzeit Konsens gefragt. Ob arabische Islamisten sich, auch innerhalb der eigenen Parteien, letztendlich demokratisch verhalten können, müssen wir abwarten.
Interview: Annett Hellwig
© Qantara.de 2012
Die Juristin Dr. Imen Gallala-Arndt wurde 1975 im tunesischen Kairouan geboren und studierte in Tunis und Heidelberg. Die Schwerpunkte ihrer Forschungsarbeit sind das internationale und nationale Privatrecht sowie das Familien- und Erbrecht jüdischer und christlicher Gemeinschaften in den islamischen Staaten. Gegenwärtig ist sie als wissenschaftliche Referentin in der Max-Planck-Forschungsgruppe "Das Recht Gottes im Wandel – Rechtsvergleichung im Familien- und Erbrecht islamischer Länder" in Hamburg tätig.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de