Gaddafis Erbe blockiert den demokratischen Wandel

Fast zwei Jahre nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes kämpft Libyen mit der Aufarbeitung der Diktatur. Offene Wunden und anhaltende Konflikte gefährden die Stabilisierung des noch jungen demokratischen Staates. Aus Tripolis informiert Valerie Stocker.

Von Valerie Stocker

Amina Mezdawi ist vom Unglück verfolgt: Ihr erster Sohn starb 1996 bei einem Massaker im ehemals berüchtigten politischen Gefängnis von Abu Slim, der zweite während der Rebellenoffensive, die 2011 den Sturz des Gaddafi-Regimes herbeiführte. An Gedenktagen können die "Mütter von Abu Slim" nach Jahren der Scham nun ihre Trauer zeigen. Doch auf Ermittlungen warten sie heute noch.

Fatima Tayar, deren Sohn in der Revolution fiel, ist voller Wut: "Wofür haben sich unsere Söhne geopfert? Bis auf die Flagge und die Nationalhymne hat sich doch nichts geändert!" Ganz in Schwarz gehüllt präsentiert Wafia Qantri ihren zehnjährigen Sohn. Er ist der einzige, der ihr geblieben ist, nachdem seine fünf älteren Brüder 2011 von Regimetruppen aus dem Elternhaus entführt wurden. Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit weigert sich Wafia die Hoffnung aufzugeben. "Ich bin überzeugt, dass sie leben, vielleicht in geheimen Gefängnissen jenseits der Grenze."

Kein automatischer Systemwandel nach dem Ende der Diktatur

Fatima Tayar (m.) trauert um ihren Sohn, gemeinsam mit zwei weiteren libyschen Frauen in Tripolis; Foto: Valerie Stocker
Like many Libyan mothers, Amina Mezdawi (center) mourns the death of her sons: Her first son died in the prison massacre and the second two years ago, when rebels stormed the regime's last stronghold in Tripoli

Nicht nur die Opfer des Gaddafi-Regimes, sondern auch Revolutionskämpfer und Kriegsvertriebene fühlen sich von der demokratisch gewählten Regierung verraten. Forderungen nach Gerechtigkeit stoßen jedoch auf die harte Wirklichkeit, in der viele frühere Entscheidungsträger weiterhin amtieren und Strafverfahren nur langsam voranschreiten. Zudem spalten durch die Revolution ausgelöste Machtkämpfe das Land. "Wir haben einen Gaddafi beseitigt und jetzt gibt es sechs Millionen davon - einen in jedem von uns", ist ein verbreiteter Satz; Ausdruck der Frustration, dass Tyrannenmord nicht automatisch Systemänderung hervorbringt.

Von manchen wird der getötete Diktator für jeglichen Missstand verantwortlich gemacht, von anderen als Garant für Stabilität betrauert. So lebt Muammar al-Gaddafi im Geist der Gesellschaft für viele weiter. "Hauptsache der Tyrann ist tot", sagt man hier, um Pessimisten zum Schweigen zu bringen. Doch pessimistisch sind in Libyen mittlerweile die meisten.

Während auf dem Märtyrerplatz in Tripolis die Mütter von Abu Slim demonstrieren, hüpfen im Stadtpark nebenan Kinder im Rhythmus eines bekannten Revolutionsliedes auf dem Trampolin. "Das Blut der Märtyrer wird nicht vergessen", lautet eine Strophe.

Mahmud, Sozialarbeiter im Libya Youth Center; Foto: Valerie Stocker
"I wish we could achieve national reconciliation": Mahmoud, the young social worker, at the Libya Youth Center

Klagen über altmodische Erziehungsmethoden

Für die Jugend geht das Leben weiter, doch auch sie trägt einen Teil der Last. Der 27-jährige Mahmud ist Sozialarbeiter am Libya Youth Center, welches von Verlust und Krieg geprägten Kindern und Teenagern Therapie und gemeinschaftliche Aktivitäten bietet. Aus seiner Sicht ist das schlechte Erziehungssystem ein Hauptgrund dafür, dass es den Jugendlichen an Lebenszielen und Zukunftsvorstellungen mangelt. "Altmodische Lehrmethoden und Manipulation schaffen Ignoranz", meint er. "Wir müssten eigentlich von null anfangen, denn obwohl Unterrichtsmaterialien für Geschichte und Sozialkunde ausgewechselt worden sind, hat sich das Schwarz-Weiß-Denken gehalten".

Meinungsverschiedenheiten werden in Libyen heutzutage oft mit Waffen anstatt mit Worten ausgetragen. Die Mitgliedschaft in bewaffneten Milizen gab jungen Männern ein Gefühl der Anerkennung. Angesichts mangelnder Berufschancen wollen viele deshalb auch nicht ins zivile Leben zurückkehren. Erschwert wird die Entwaffnung der Gruppen zudem durch schwelende Stammeskonflikte, die wie in der südlichen Stadt Sebha oder im westlichen Nafusa-Gebirge häufig in offene Kämpfe ausbrechen.

Vermittler verzweifeln an den zähen Friedensverhandlungen. "Immer wieder dieselben Vorwürfe und keine Seite gibt zu, dass sie die Konsensfindung blockiert", seufzt Mossadeq, der im Rahmen einer zivilgesellschaftlichen Initiative den Dialog zwischen verfeindeten Volksgruppen des Südens fördert. Waffenstillstände sind bereits vielerorts gescheitert, da Stammesälteste die jungen Kämpfer nicht unter Kontrolle haben. Die Polizei hat kein Durchsetzungsvermögen und bewaffnete Gruppen entscheiden über Recht und Ordnung.

Graffiti Muammar al-Gaddafi and sein Sohn Saif al-Islam in einer Mülltonne; Foto: Valerie Stocker
"We got rid of one Gaddafi, now we have six million – one in every Libyan's head." Pictured: A graffito depicting Muammar Gaddafi and his son Saif al-Islam, who is currently on trial

Ohne Gerechtigkeit keinen Frieden

Am 19. September begann ein langwieriges Gerichtsverfahren gegen 37 Ex-Regimemitglieder, darunter Gaddafi-Sohn Seif al-Islam und Ex-Geheimdienstchef Abdullah Senussi. Das Verfahren wurde als wichtige Etappe der Vergangenheitsbewältigung betrachtet. Ohne Gerechtigkeit keinen Frieden, lautet die Devise. Der Fall Seif al-Islam offenbart jedoch die Schwierigkeit Recht zu sprechen, während lokale Entscheidungsträger ihre Ziele nach eigenen Regeln verfolgen.

Die Ortschaft Zintan, deren Kämpfer 2011 den Mann fassten, der einst als Gaddafis Nachfolger galt, weigert sich, ihn an die Behörden in der Hauptstadt auszuliefern, oder seinen Prozess an den Internationalen Strafgerichtshof zu übergeben. "Wir halten Seif an einem geheimen Ort gefangen, um ihn vor Racheakten zu schützen", verteidigt der zuständige Brigadenchef Ajmi al-Ateri die Entscheidung.

Für Libyen stehen indessen dringendere Aufgaben an. "Was bringt uns das Kriegsverbrechertribunal, wenn täglich Verbrechen geschehen?", fragt Hamed, der versichert, er habe als Wachschützer des Rixos Hotels in Tripolis Entführungen miterlebt. In Bengasi hat es seit der Revolution über 70 politische Morde gegeben. Für eine richtige Konfliktbewältigung müssten Straftäter verfolgt und Zeugen beschützt werden. Dazu ist die Regierung jedoch bislang nicht in der Lage.

Von allen Seiten unter Druck gesetzt, hat Premierminister Ali Zeidan kürzlich einen nationalen Friedensprozess angekündigt, der alle Interessengruppen mit einschließen und in einem Grundsatzvertrag münden soll. Die meisten sind skeptisch, was den Erfolg dieses vage formulierten Vorhabens betrifft. Der erhoffte Frieden sei jedoch jeden Versuch wert, sagen sie.

Valerie Stocker

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de