''Gaddafis Gangster-Mentalität lebt fort''
Markttag in der ostlibyschen Metropole Bengasi. Im Altstadtquartier Assabri breiten Verkäufer auf Klapptischen und Motorhauben ihre Ware aus: Pistolen, Maschinengewehre, Granaten, Munition. Auch die eine oder andere Panzerfaust wird feilgeboten. Potenzielle Käufer schleppen Tüten voller Geldbündel an, Libyens größte Geldnote ist der zehn Dinarschein.
"Darf ich mal ausprobieren?", fragt ein Kunde mit einem kleinen Kind an der Hand, greift nach einer AK-47 und feuert in die Luft. Das Kind zuckt nicht zusammen: In Bengasi gehört das Geräusch von Feuerwaffen zum täglichen Lärmpegel wie Autohupen oder Handyklingeln.
Drei Waffen pro Kopf
Geschätzte 200.000 Waffen befinden sich seit dem Bürgerkrieg im vergangenen Jahr in libyschen Händen. Das sind mehr als drei pro Kopf. Der Großteil davon stammt aus den Arsenalen des getöteten Diktators Muammar Gaddafi. Andere tragen das Emblem des Emirats Qatar, das die Rebellen während des Bürgerkrieges aufrüstete.
Während in der Hauptstadt Tripolis die meisten Bürger ihre Kalaschnikows mittlerweile im Keller verstaut oder den Behörden übergeben haben, trauen sich in Bengasi viele Menschen nicht unbewaffnet aus dem Haus. Die Kriminalitätsrate ist seit der Revolution stark gestiegen, die wenigen Polizisten überfordert und verängstigt. "Herrscher prägen ihr Volk. Gaddafi war ein Gangster. Er hat aus uns eine Gangsternation gemacht", sagt Tarek Ahmed, Sicherheitsberater für ausländische Ölfirmen.
42 Jahre lang habe in Libyen niemand eine Waffe tragen dürfen, führt Ahmed aus. Seit dem Bürgerkrieg würden Waffen nun als Symbol der Freiheit gelten – der Freiheit, sich zu nehmen, was immer man möchte: Geld, Autos, politischen Einfluss.
Regierung überfordert
Der neuen Übergangsregierung fehlen die Kapazitäten, um der Aufrüstung der Bevölkerung etwas entgegenzusetzen. Zweimal hätten die staatlichen Sicherheitskräfte in den vergangenen Monaten versucht, den Waffenmarkt in Bengasi zu räumen, erzählt Ahmed. Beide Male wurden sie von den Händlern gewaltsam vertrieben.
Als vor einer Woche eine Gruppe Bewaffneter die Büros des Fernsehsenders Al-Hurra TV im Stadtzentrum verwüstete, schauten die Behörden zu. Die Angreifer waren nicht einverstanden mit der Berichterstattung des Senders über die jüngsten Kämpfe in der Wüstenstadt Bani Walid.
Auch bei der Stürmung des US-Konsulats in Bengasi am 11. September dieses Jahres gaben die libyschen Sicherheitskräfte eine schlechte Figur ab. Augenzeugen zufolge nahmen die Wachmänner Reißaus, als Islamisten Raketen und Granaten auf das Gebäude feuerten. Der amerikanische Botschafter Christopher Stevens sowie drei weitere US-Bürger verloren bei dem Angriff ihr Leben. Das Weiße Haus geht davon aus, dass Al-Qaida-Sympathisanten hinter dem Terroranschlag stecken.
Gefährdung für die Sahelstaaten
Aus libyscher Perspektive ist die Bedrohung durch radikalislamische Gruppen nur eine untergeordnete Gefahr. "Der gewaltsame Islam ist in der libyschen Kultur - anders als in Algerien oder Ägypten - nicht verwurzelt, sagt Abdu, ein Politologe aus Bengasi, der seinen vollen Namen nicht nennen will.
Zwar seien seit der Revolution Dutzende Exil-Libyer aus Afghanistan und Pakistan in ihre Heimat zurückgekehrt und stellten nun eine Gefahr für ausländische Einrichtungen dar. Auf gesellschaftlichen Rückhalt könnten sie jedoch nicht zählen. Selbst in der vermeintlichen Islamistenhochburg Derna, knapp 300 Kilometer östlich von Bengasi gelegen, hätten die Bewohner die selbsternannten Gotteskrieger vor kurzem aus der Stadt gejagt, so Abdu.
Die Mehrheit der libyschen Milizen und Kartelle treiben nicht religiöse Utopien an, sondern ganz profane Geschäftsinteressen. Mehrere einträgliche Schmuggelrouten des Kontinents führen durch Libyen, dessen insgesamt 4.300 Kilometer lange Wüstengrenze sich kaum kontrollieren lassen.
An Abnehmern für Waffen aus Libyen mangelt es in den volatilen Staaten der südlich gelegenen Sahelzone nicht: In Darfur haben die Aufständischen dank neuem Kriegsgerät aus dem Nachbarland plötzlich Aufwind im Kampf gegen das Völkermordregime von Omar al-Baschir.
In Mali hat die Waffenflut aus Libyen zu einer Sezession des Nordens unter dem Banner radikaler Islamisten geführt.
Eine Grenze, vier Zollposten
Am gewinnbringendsten für die libyschen Schmuggler allerdings ist der Drogen-, Waffen- und Flüchtlingshandel mit ägyptischen Beduinen. Tausende Waffen sollen seit dem Fall Gaddafis in die Hände fanatischer Islamisten auf dem Sinai und in Oberägypten gelangt sein, darunter auch Boden-Luft-Raketen, mit denen sich Flugzeuge vom Himmel holen lassen. Viele sehen einen direkten Zusammenhang zwischen der jüngsten Angriffswelle auf ägyptische Sicherheitskräfte und den unkontrollierten Waffenimporten aus Libyen.
Allein im August kamen bei einem Anschlag nahe der israelischen Grenze 16 ägyptische Soldaten ums Leben. "Der illegale Güterverkehr mit Ägypten ist die wichtigste Einnahmequelle für die Milizen im Osten Libyens", sagt Politexperte Abdu.
Am einzigen offiziellen Grenzübergang der beiden Staaten nahe der Mittelmeerküste lässt sich unschwer erkennen, wie kostbar das Schmuggelgeschäft für die Region ist: Gleich vier Zollposten müssen Reisende hier passieren – jeder davon untersteht einer anderen Miliz.
Pulverfass Bengasi
Im rückständigen Osten des Landes ist die organisierte Kriminalität für viele junge Libyer oftmals der einzige Ausweg aus der Arbeitslosigkeit. Zwar verfügt die Region über gewaltige Rohstoffvorkommen. Der Großteil der Erdöleinnahmen fließt allerdings in die Taschen einiger Weniger.
Tarek Ahmed gibt zu bedenken, dass die ökonomische Situation eng mit der Sicherheitslage verknüpft ist. Eine gewaltsame Entwaffnung der Milizen könne keinen Erfolg haben, solange der Schmuggel die einzige nennenswerte Einnahmequelle bleibe. "Die Regierung muss den Menschen wirtschaftliche Alternativen bieten. Ansonsten bleibt Bengasi ein Pulverfass", warnt er.
Als deutliches Beispiel verweist Ahmed auf die Hauptstadt Tripolis: Dort hat sich das wirtschaftliche Klima in den vergangenen Monaten deutlich gebessert. Viele Geschäftsleute machen bereits mehr Umsatz als vor der Revolution. Ein offener Waffenmarkt wie in Bengasi wäre in Tripolis undenkbar: Die letzten bewaffneten Brigaden haben der Metropole vor Monaten den Rücken gekehrt.
Markus Symank
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de