Bündnisse der Widersprüche
Die sich rasant verändernde türkische Politik wird bei den vorgezogenen Wahlen am 24. Juni viele Premieren erleben – darunter auch neue Parteienbündnisse, die sich bereits vor der Wahl in Stellung bringen.
Über 59 Millionen Wählerinnen und Wähler werden an diesem Tag nicht nur ihren Präsidenten wählen, sondern auch die politische Zusammensetzung des 600 Sitze umfassenden Parlaments. Einige der Parteien treten dabei als Bündnisse an – was in der türkischen Geschichte eine völlig neue Entwicklung darstellt. Also wird vor der Wahl nicht nur um Ideen und Programme gekämpft, sondern auch versucht, die Mehrheitsverhältnisse der Parteien möglichst genau zu auszuloten.
Im vergangenen März dieses Jahres genehmigte das Parlament eine gemeinsame Initiative der regierenden "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) und der "Nationalistischen Bewegung" (MHP). Dabei ging es darum, vor der Wahl Bündnisse eingehen zu dürfen.
Bereits im Vorfeld der Entscheidung gab es eine hitzige Debatte, die die ganze Nacht lang andauerte und bisweilen sogar gewalttätige Auseinandersetzungen nach sich zog. Nach der Einführung der neuen Regelung können Parteien nunmehr Wahlbündnisse eingehen und auf dem Wahlzettel trotzdem unter eigenem Namen rangieren.
Auch bei diesen Wahlen wird es eine Zehn-Prozent-Hürde geben, die in der Vergangenheit immer wieder heftig von den Oppositionsparteien kritisiert worden war. Sie gilt zwar bis heute, wenn auch in modifizierter Form, bezieht sie sich nunmehr auf die Summe der Wählerstimmen eines bestimmten Bündnisses. Diese heikle Neuregelung ist für die Zukunft der Türkei von entscheidender Bedeutung, da die Opposition darauf baut, dass die kurdenfreundliche "Demokratische Partei der Völker" (HDP) die Zehn-Prozent-Hürde nehmen kann – obwohl sie an keinem der neu gegründeten Bündnisse teilhaben wird.
Wie aus einstigen Gegnern Verbündete wurden
Der Weg für diese Neuregelung wurde von Devlet Bahçeli bereitet, dem Parteiführer der MHP. Seine Partei war einst der stärkste Gegner der AKP und ihres Chefs, des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Dann allerdings kamen der Putschversuch vom Juli 2016 und das Verfassungsreferendum vom April 2017, bei dem sich die Türkei von einer parlamentarischen Demokratie in einen Präsidialstaat verwandelte. Hierbei wurde die AKP maßgeblich von Bahçelis MHP unterstützt.
Gleichzeitig stand die MHP selbst vor einem Problem: Einige ihrer ehemaligen Abgeordneten gründeten eine neue nationalistische Partei, die sich "Gute Partei" (İYİ) nennt. Der Parteibasis der MHP bereite es einige Kopfschmerzen, dass sie dadurch einen Teil ihrer zwölf Prozent Wählerstimmen verlieren könnte. Dies bildete die Grundlage für eine Zusammenarbeit zwischen der MHP und der AKP. Doch um ein Vorwahlbündnis zu bilden, war etwas mehr Zeit nötig.
Nachdem die türkische Verfassung geändert wurde, war die nächste Wahl eigentlich für 2019 vorgesehen, aber dann kam im letzten Januar eine Reihe von Ereignissen dazwischen: Zuerst erklärte Bahçeli, seine Partei werde keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten stellen, sondern stattdessen Erdoğan unterstützen. Im Februar überzeugte er dann die AKP von der Idee, das Wahlgesetz so zu ändern, dass bereits vor den Wahlen Bündnisse möglich sind. Und im April forderte er schließlich vorgezogene Neuwahlen.
Ob Bahçelis Aktionen vorher abgesprochen waren oder ob er vielmehr den Druck auf die AKP erhöhen wollte, bleibt bislang noch unklar. Auf jeden Fall hatte die AKP gute Gründe dafür, die helfende Hand der MHP zu ergreifen.
Die letzte Verfassungsänderung wurde nur von etwa 51,3 Prozent der türkischen Wähler unterstützt. Um Erdoğan eine erneute Präsidentschaft zu garantieren, reichte diese Mehrheit bei weitem nicht aus. Versucht die AKP allerdings, ihr Wahlergebnis durch ein Bündnis mit der nationalistischen MHP aufzubessern, riskiert sie, die Stimmen der konservativen Kurden zu verlieren.
In derselben Rede, in der er ankündigt hatte, die Präsidentschaft Erdoğans zu unterstützen, erklärte Bahçeli nämlich auch, Afrin solle "entweder total zerstört werden, oder die Terroristen dort sollten verbrannt werden". Die Äußerungen bezogen sich auf die weitgehend von Kurden bevölkerte Stadt in Nordsyrien, die von der türkischen Armee angegriffen wurde. Der Grund für die Militäraktion war, dass die Stadt unter der Kontrolle syrisch-kurdischer Kräfte stand, die mit der "Kurdischen Arbeiterpartei" (PKK) verbunden sind – und die wiederum von Ankara als existenzielle Bedrohung des türkischen Staates gesehen wird.
Verschwörungstheorien als Wahlkampfmunition?
Dies ist der zentrale Grund für das Vorwahlbündnis zwischen der AKP und der MHP. Im Manifest ihrer sogenannten "Volksallianz" geht es hauptsächlich um gegenwärtige "Bedrohungen" für die Türkei, etwa durch terroristische Anschläge oder einen Putsch. Die Parteien der "Volksallianz" behaupten, die einzigen zu sein, die diesen Gefahren begegnen können. Ihren Gegnern werfen sie vor, die Interessen von Staatsfeinden zu bedienen.
Als die vorgezogenen Neuwahlen angekündigt wurden, vergab die größte Oppositionspartei, die "Republikanische Volkspartei" (CHP) 15 ihrer Abgeordneten an die İYİ, um zu gewährleisten, dass diese Partei den Wahlregeln entsprechend gewählt werden darf. Mit diesem Versuch, sich in eine Schlüsselposition zu bringen, hatte die CHP für Überraschung gesorgt: Denn bisher hatte die İYİ Erdoğans AKP nie offen attackiert, sondern verhielt sich eher zurückhaltend – wofür sie in der Vergangenheit oft kritisiert worden war. Außerdem galt die İYİ bislang als entschiedene Gegnerin der CHP.
Für noch mehr Überraschung sorgte allerdings das Verhalten der "Partei der Glückseligkeit" (SP), die die religiöse "Bewegung der Nationalen Sicht" und die Wurzeln der AKP repräsentiert: Sie schlug eine Einladung der "Volksallianz" aus und schloss sich stattdessen der Opposition an.
Die SP, die im Parlament nicht vertreten ist, weil sie zuletzt an der Zehn-Prozent-Hürde gescheitert war, könnte eine Schlüsselrolle spielen, indem sie religiöse Wähler anzieht, die mit der AKP nicht zufrieden sind.
Die SP war also mit der CHP und der İYİ ein Bündnis eingegangen, um einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten zu finden. Dazu hatten sie allerdings nur wenig Zeit und konnten sich letztlich nicht einigen.
Obwohl sie also ihre jeweils eigenen Kandidaten ins Rennen schicken, bilden sie jetzt das sogenannte "Bündnis der Nation". Diese Vereinigung von Oppositionsparteien wurde vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Bekir Bozdağ als "Bündnis der Wut" bezeichnet. So behauptete er: "Was sie motiviert, sind nicht die Interessen der Türkei oder das, was in Zukunft getan werden muss, sondern allein die Opposition gegen Recep Tayyip Erdoğan."
In seinem Manifest verspricht das "Bündnis der Nation" eine Gewaltenteilung auf der Grundlage einer starken parlamentarischen Legislative. Weiterhin werden die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der Kompromissfähigkeit und der Bürgerrechte betont, insbesondere die Redefreiheit und die Unabhängigkeit der Medien.
Oppositionsbündnis ohne kurdische HDP
Allerdings wurde die drittgrößte Partei im Parlament, die HDP, vom Bündnis der Nation ausgeschlossen. Die CHP und die SP hatten zwar ihre Bereitschaft signalisiert, die kurdenfreundliche Partei aufzunehmen, konnten die nationalistische İYİ allerdings nicht davon überzeugen.
Außerdem leidet das "Bündnis der Nation" unter seiner Vielfalt von Kandidaten. Das Ziel ist, für den Fall, dass Erdoğan in der ersten Runde weniger als 50 Prozent der Stimmen erhält, in der zweiten Runde anzutreten. Aber die aktuelle Strategie bringt es mit sich, dass die Kandidaten des Bündnisses nicht nur gegen Erdoğan, sondern letztlich auch gegeneinander antreten.
Allerdings verfolgt die Opposition noch ein weiteres Ziel: Sollte sie es nicht schaffen, den Präsidenten zu stellen, will sie zumindest eine parlamentarische Mehrheit erreichen. Da die İYİ zum ersten Mal zur Wahl steht, ist völlig offen, wieviel Stimmen sie bekommt.
Die SP erreichte bei den letzten Wahlen weniger als ein Prozent, dieses Mal werden es sicher mehr. Die Wähler dieser Parteien, die bislang vielleicht gezögert haben, werden nun alle womöglich das gleiche denken: Wegen des Bündnisses ist meine Stimme nicht verschwendet, da wir jetzt gemeinsam die Zehn-Prozent-Hürde nehmen können.
Ob dieser Plan aufgeht, hängt allerdings vom Ergebnis der HDP ab. Bei den letzten Wahlen im Jahr 2015 erreichte sie 10,8 Prozent der Stimmen, aber ob sie dieses Mal die Hürde wieder überspringen wird, ist unklar. Sollte dies nicht der Fall sein, würden in den kurdischsprachigen Gebieten fast alle Sitze an die AKP fallen. Schafft es die HDP nicht ins Parlament, könnte die AKP Schätzungen zufolge etwa 60 zusätzliche Sitze bekommen.
Im Türkischen gibt es eine Redensart: "Das, was man zu Hause ausrechnet, muss nicht unbedingt auch auf dem Markt gelten." Welche der Vorwahlbündnisse mit ihren Berechnungen richtig liegen, wird die Türkei erst am 24. Juni erfahren.
Ayşe Karabat
© Qantara.de 2018
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff