Die "Stehaufmännchen"
"This is my dream." Sajed Abu Ulbeh steht auf dem Rand der neuen Skaterampe und blickt mit strahlenden Augen auf die ausgelassen herumtollenden Kinder und Jugendlichen hinab. "Everyone is crazy!", sagt er lachend.
Sajed ist 29 Jahre alt und Skater aus Leidenschaft. Als er zwölf war, brachte ihm sein Vater ein Paar Inlineskates aus Israel mit und begründete damit die Passion seines Sohnes, der von da an die engen Straßen Qalqiliyas unsicher machte. Die Nachbarn sahen ihm kopfschüttelnd hinterher; dieser bunte Hund mit Rollen an den Füßen passte so gar nicht in das beschaulich konservative Bild der palästinensischen Stadt.
Doch nach einiger Zeit schlossen sich Sajid andere Jugendliche und Kinder an, ausgestattet mit allem was Rollen besitzt. Es entwickelte sich eine – wenn schon nicht wirklich professionelle, so doch zumindest begeisterte Skater-Szene, die sich den Namen "X-Games" gab – in Anlehnung an die berühmten Extremsportwettkämpfe der USA.
Kein Raum zum Spielen
Doch Straßen sind ein gefährlicher Ort zum Spielen. Schon bald nach ihrer Gründung wurden die jungen Skater von der Polizei in die Nebenstraßen vertrieben, die jedoch in der Zweiten Intifada durch den Einsatz israelischer Panzer zerstört und zum Skaten unbrauchbar gemacht wurden. Die Jugendlichen träumten von einem ganz eigenen Ort und fantasierten insgeheim von den großen Skateparks und Rampen jenseits der israelischen Mauer.
Die Suche nach Freiräumen ist allgegenwärtig in der Westbank. Man kann sich wohl kaum einen "klaustrophobischeren" Ort als Qalqiliya vorstellen, denn die gut 40.000 Einwohner zählende Stadt im Nordwesten der Westbank ist an drei Seiten direkt von der israelischen Sperranlage umschlossen; einer acht Meter hohen grauen Betonmauer, deren Bau 2002 von der Regierung Scharon im Zuge seiner Anti-Terror-Maßnahmen beschlossen wurde.
80 Prozent dieser Sperranlage weichen allerdings von der 1949 vereinbarten sogenannten "grünen Linie" ab, fast ausschließlich zugunsten Israels. Qalqiliya wurde beinahe vollständig von seinem Umland abgetrennt. Die wahren Ausmaße dieser Sperrwallkonstruktion lassen sich in dieser Stadt nur aus luftiger Höhe vom Dach eines Hauses erkennen, wo ein fast geschlossener Kreis um Qalqiliya erkennbar ist – und bei gutem Wetter das nahe und doch so ferne Meer aufblitzt.
Auf der Suche nach Lebensfreude
Sajid eröffnete 2010 mit seinen eigenen Ersparnissen einen kleinen Indoor-Skatepark, den er jedoch nach kurzer Zeit aufgrund mangelnder finanzieller Mittel wieder schließen musste, was die "X-Games" zurück auf Qalqiliyas Straßen zwang.
Doch die Skater ließen sich nicht entmutigen. Im Gegenteil, sie begannen damit, ihre Fähigkeiten zu trainieren und sich in Eigenregie Hip-Hop, Beatboxing und Parkour beizubringen – ein Ausdruck ihres Widerstandes gegen die israelische Okkupation einerseits und die starren konservativen Traditionen ihrer Gesellschaft andererseits. Gleichzeitig stellte es den Versuch dar, innerhalb der ummauerten Stadt ein wenig Lebensfreude zu finden.
"Hier geschieht etwas Besonderes"
2011 endlich kam der Wendepunkt und zwar in Gestalt zweier Männer: Der New Yorker Künstler Adam Abel war aufgrund von Recherchearbeiten für ein Kunstprojekt über physisch begrenzte Räume in die Stadt Qalqiliya gekommen, wo er auf der Suche nach einem kompetenten Ortskundigen auf den bekannten politischen Aktivisten und Menschenrechtler Mohammed Othman traf. Abel hatte über Umwege auch von Sajid und den "X-Games" gehört und beschloss – stets auf der Suche nach einer spannenden Geschichte – den jungen charismatischen Mann zu treffen. Othman, an dem die Existenz dieser jugendlichen Subkultur bisher völlig vorbei gegangen war, begleitete ihn.
Als sie Sajid trafen war es quasi Liebe auf den ersten Blick: "Mohammed und ich stammen zwar aus vollkommen unterschiedlichen Welten, doch beide haben wir sofort erkannt: Hier geschieht etwas Besonderes, etwas ganz und gar Einmaliges", erinnert sich Abel. "Von einem auf den anderen Moment habe ich all meine Arbeit liegen gelassen und beschlossen, diese Geschichte in einen Film zu erzählen."
Der Film "Qalqiliya – Where Palestinians are learning how to fly" erzählt die Geschichte von Sajid und den "X-Games". Er begleitet sie auf ihrer Suche nach Anerkennung, einem eigenen Lebensraum und schildert ihren Traum vom eigenen Skatepark.
"Wir haben den Jungs nie etwas versprochen – weder, dass wir den Film veröffentlichen, noch dass wir ihnen einen Skatepark bauen werden", erzählt Othman.
Selbst als er und Abel Ende 2012 die in Dubai ansässige Kultur- und Kunstorganisation "Tashkeel" als Finanzier ins Boot holten und Anfang 2013 einen kalifornischen Designer für eine Skaterampe engagierten, blieben Abel und Othman in ihren Aussagen gegenüber den Jugendlichen recht vage.
"Wir haben ihnen gesagt: 'Hört zu, wir können euch nichts versprechen. Wir werden uns alle Mühe geben, dieses Projekt hier zu verwirklichen. Aber bitte gebt uns Zeit'", erzählt Abel. "Eine genaue Planung ist zeitlich kaum unmöglich. Letztlich kann jedes noch so sichere Projekt aus irgendeinem Grund von Israel gekippt oder auf Eis gelegt werden. Auch die Zusammenarbeit mit der Verwaltung Qalqiliyas hat sich als sehr mühsam herausgestellt, denn die hatten überhaupt keine Vorstellung von dem, was uns hier vorschwebte."
Qalqiliyas furchtlose Kinder
Neun Monate intensiver Planung, eine einwöchige Bauphase, viele Rückschläge, Schweiß und Tränen. Doch inzwischen ist mit der Eröffnung der neuen Skate-Rampe auf dem Gelände des Zoos von Qalqiliya, übrigens dem einzigen Zoo der Westbank, der Traum Sajids und seiner Freunde in Erfüllung gegangen. Auch das mehrjährige Filmprojekt Abels und Othmans ist inzwischen abgeschlossen.
"Natürlich lassen wir sie nicht alleine. Ganz im Gegenteil: Unsere Verbindung ist heute stärker denn je. Aber wir wollen, dass sie lernen, Eigenverantwortung zu übernehmen. Wir haben die Saat gelegt, die sie nun bewässern und pflegen müssen", meint Othman.
Und Abel fügt hinzu: "Diese Rampe und diese Kinder sind einmalig. Sie sprechen eine Sprache, die den Bewohnern von Qalqiliya fremd ist. Und es ist wichtig, dass ihre Sprache Gehör und Verbreitung findet. Die Rampe wurde nicht für eine geschlossene Gruppe gebaut, sondern für eine wachsende und offene Community."
Die Rampe in Qalqiliya ist nicht die erste Rampe in den palästinensischen Autonomiegebieten: Auch Ramallah und Gaza-Stadt wurden in diesem Jahr mit eigenen Skatebahnen ausgestattet. Doch Qalqiliyas Rampe ist bei weitem die Größte. Zudem ist sie mit einem individuellen vierstufigen Design verschiedener Schwierigkeitsgrade versehen – deren Höhe der Designer vor Ort auf Druck der Kids ständig neu anpassen musste. Höhenangst scheinen sie jedenfalls nicht zu kennen.
Auch der 13-jährige Abdullah rollt auf seinem Skateboard furchtlos die Rampe hinauf. Ein blaues Auge verrät zwar, dass er bereits mit dem Boden Bekanntschaft gemacht hat, doch Abdullah zuckt nur die Schultern: "Früher habe ich auf der Straße gespielt. Manchmal bin ich 50 Mal hintereinander hingefallen und das hat viel mehr wehgetan. Aber dann bin ich einfach aufgestanden und habe weitergeübt."
Laura Overmeyer
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de