Refrain des Schattendaseins

Er ist eine unüberhörbare Stimme in der maghrebinischen Literatur: Hamid Skif. Aus Algerien geflüchtet, lebt der Journalist und Autor heute im deutschen Exil. In seinem neuen Roman "Geografie der Angst" lässt er einen illegalen Einwanderer erschreckend authentisch zu Wort kommen. Von Naima El Moussaoui

By Naima El Moussaoui

Afrikanische Flüchtlinge auf den Kanarischen Inseln; Foto: AP
Sie haben ihr Leben riskiert, um in die vermeintlich paradiesische Welt Europa zu gelangen - afrikanische Flüchtlinge auf den Kanarischen Inseln

​​Seit seiner Ankunft auf diesem Kontinent muss er sich verstecken, niemand darf wissen, dass er existiert. Er muss abwarten ... Nur den Verhaltenscodex der "Sans Droits" einhalten: Nicht bei Tag hinausgehen, nicht an öffentlichen Orten herumlaufen, nicht krank werden, nicht schwarz fahren, nicht auf der Straße streiten, nicht zu laut reden. Und: natürlich sein.

Draußen, auf den Straßen, hat sich die Jagd auf die illegalen Einwanderer verschärft, tausende Glücksucher landen wieder an ihrem Ausgangspunkt. Rückgeführt: zusammengepfercht und abgeschoben. Das ist das Leben des Protagonisten im neuen Roman des algerischen Schriftstellers und Journalisten, Hamid Skif, "Geografie der Angst". Sein ständiger Weggefährte ist die Angst. Sie ergreift seine Hand, weist ihn auf Gefahren hin, er ist ihr dankbar, dass sie ihn begleitet – ohne sie fühle er sich verloren, sagt er. Manchmal reden sie, er und die Angst: "Es tut gut, mit jemandem zu reden", sagt er.

Vom Gutmenschen zum Verräter

Das Versteck des Schattenmenschen ist seit einigen Monaten ein kleines Zimmer, das Michel Delbin, der Geologiestudent, für ihn gemietet hat. Ohne den Studenten wäre er aufgeschmissen. Michel versorgt ihn nämlich auch mit Lebensmitteln und Zeitungen. Doch hinter all dem verbirgt sich nicht allein Altruismus, Humanität oder ein rebellischer Geist: Michel verliebt sich in seinen Schützling.

Unerwiderte Liebe und verletzter Stolz machen auch aus herzensguten Menschen Scheusale. Und so wird aus dem Gutmensch Michel zum Ende hin der elende Verräter: Als er merkt, dass sein Migrant auf und davon ist, um mit seiner großen Liebe, der Schwiegertochter der Nachbarn, glücklich zu werden. Er. Einen Sans Papiers würde man ihn in Frankreich nennen, Sin papeles in Spanien, in Italien hieße er Clandestini, in Deutschland bei denen, die Wert auf Political Correctness legen, illegaler Migrant, bei den anderen schlichtweg Illegaler.

Schriftsteller und Journalist Hamid Skif; Foto: Larissa Bender
Hamid Skif: "Ich habe in diesem Buch versucht, die Folgen der Angst und des Eingeschlossenseins bis an ihre Grenzen zu treiben."

Wer sauber raus sein will, setzt ein "so genannter" davor oder das Wort in Anführungsstriche, und sagt dazu: Schließlich geht es ja um einen Menschen. Hamid Skif erspart sich dieses Theater. Harragas, Schwarzfahrer auf Arabisch, sagt er an einer einzigen Stelle im Roman. Wörtlich: "der verbrennt". Was? Alles, was er bei der Überfahrt nach Europa bei sich hatte. Doch Skif verrät weder den Namen des Protagonisten noch seinen Aufenthaltsort – Daten, die sein Held selbst nie preis geben würde.

So bleibt dieser Mensch ein "n’importe qui", ein x-Beliebiger, ein illegaler Einwanderer unter vielen. ​​Doch der Autor gibt seinem Helden eine Stimme. Und damit gleichsam allen Sans Papiers. Eine mal sanfte, mal laute, stets aber eindringliche und hypnotisierende Stimme. Der Immigrant ist es nämlich, der unmittelbar aus der erlebten Situation heraus erzählt. Er eröffnet dem Leser einen Blick in das verborgene und verstörende Schattendasein der Klandestinen.

Der Schatz der Fantasie

Dadurch, dass Skif auch den Ort nicht nennt, an dem der Roman spielt, prangert er kein bestimmtes Land an. Der Leser indes vermutet, dass sich all dies inmitten der "patrie des doits de l’homme", in Frankreich, abspielt, wahrscheinlich gar im Pariser Banlieue. Er fasst nämlich eine Äußerung des Ich-Erzählers als klaren Hinweis auf: "Die Gesetze, wonach Durchsuchungen vor dem Morgengrauen verboten waren, sind aufgehoben. Sie putzen mit dem Kärcher."

"Nettoyer au Kärcher" – ein Ausdruck des Super-Flics und französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy. Er war es, der kurz vor den Vorstadtunruhen im Herbst 2005, damals noch Innenminister, erklärte, einen Pariser Vorort mit dem Hochdruckreiniger von den als "racaille" (Gesindel) bezeichneten Jugendlichen reinigen zu wollen. Hamid Skifs Held ist ein Überlebenskünstler. Ein Mensch, der aus seinem eigenen inneren Reichtum schöpft. Darin kramt und immer wieder eine schöne, traurige, erzählenswerte Geschichte findet: von seinen Jugendlieben, Mythen seiner Heimat Nordafrika, von seiner Familie ... Und er erzählt die Erinnerungen so, wie man sie im Orient erzählt: Man holt weit aus, noch weiter, dichtet hier und da noch etwas hinzu, alles vor seinem geistigen Auge sehend.

Unheimliche Phantome der Träume

Im Erzählduktus des Romans vermischen sich die Übergänge zwischen Wachsein und Traum, Realität und Erinnerung. In den existenziellen Grenzsituationen des Protagonisten ist die Chronologie der Zeit gleichgültig, ja bedeutungslos geworden; es geht ums bloße Überleben. Um der Verzweiflung nicht ausgeliefert zu sein, erweckt der Protagonist die üblen Figuren seiner Vergangenheit, die unheimlichen Phantome seiner Träume, wieder zum Leben: grausame Arbeitsgeber, Stricher und Menschenhändler; den marokkanischen Schlepper und Drogendealer; er erzählt von korrupten Beamten und dem penetranten und skrupellosen Polizisten mit einem Fetisch für Reizwäsche.

Sein Kontakt zur Außenwelt ist auf die Ereignisse des tragikomischen Lebens beschränkt, das sich in den gegenüberliegenden Wohnhäusern abspielt. Von der Außenwelt abgekapselt, eingeschlossen in dieser Falle, malt er sich Geschichten über die Bewohner aus, die er durch die Dachluke seines Versteckes beobachten kann. Sie werden Teil seines Daseins; er verpasst keinen Akt.

Wie das Tagebuch eines Verfolgten

Der Erzähler ist derart authentisch, der Bericht derart intensiv, dass "Geografie der Angst" das Tagebuch eines existierenden illegalen Einwanderers sein könnte. Er zeigt die Grausamkeit der Angst in all ihren Facetten auf. "Ich habe in diesem Buch versucht, die Folgen der Angst und des Eingeschlossenseins bis an ihre Grenzen zu treiben, indem ich ausgemalt habe, was passieren würde, wenn die westlichen Städte Schauplatz einer gigantischen Menschenjagd würden", erklärt der Autor zu seinem Roman. "Das ist keine Wahnvorstellung, sondern eine vorhersehbare Möglichkeit." Eine Möglichkeit, die bereits Realität war; eine Realität, die Anne Frank ihrer imaginären Freundin Kitty anvertraut: im Holocaust. Unweigerlich fühlt man sich beim Lesen von "Geografie der Angst" an "Das Tagebuch der Anne Frank" erinnert. "Als Jugendlicher hat mich das Tagebuch der Anne Frank stark beeindruckt", sagt Hamid Skif in mehreren Interviews, "aber die Situationen sind absolut verschieden und ich möchte keine Parallelen ziehen."

​​Der Roman endet mit der Festnahme des Protagonisten. Was anschließend mit ihm passiert, dieses Türchen lässt Hamid Skif dem Leser offen.

Ansturm der Armen

In seinen letzten Worten schreit sich der Erzähler seine ganze Wut auf das reiche und arrogante Europa aus dem Leib: "Ihr bombardiert uns mit diesem Wohlstand, der von den Bildschirmen tropft, und ihr wollt, dass wir dort unten bleiben ... Ihr unterstützt lieber diejenigen, die uns das Blut aussaugen, statt uns zu helfen, mit den Tyrannen fertig zu werden ... Ihr seid die Komplizen der Mörder."

Er kündigt die Armee der illegalen Einwanderer, den Ansturm der Armen auf die Festung Europa an. Eine Prophezeiung, die sich täglich bewahrheitet. Hamid Skif gelingt es, die Lebenssituation eines Sans Papiers schockierend genau nachzuzeichnen und die Absurdität einer Welt aufzuzeigen, in der Papiere bestimmen, ob man als Mensch behandelt wird oder nicht. Jeder Mensch verdient es, wie ein Mensch behandelt zu werden. Schlichter könnte die poetische Wahrheit eines Romans nicht sein.

Naima El Moussaoui

© Qantara.de 2007

Hamid Skif: Geografie der Angst, Deutsche Erstausgabe, Edition Nautilus, ISBN 978-3-89401-548-0 Nach verschärften Zensurmaßnahmen durch die Regierung und einem Mordanschlag von Seiten der Fundamentalisten, flüchtete Hamid Skif 1997 ins Exil nach Deutschland, wo er seitdem lebt. Der regierungskritische Journalist, Dichter und Schriftsteller erhielt 2006 für seinen Biefroman "Monsieur le président" (Sehr geehrter Herr Präsident) den Literatur im Exil-Preis. "Geografie der Angst" wurde 2007 mit dem "Prix de l’association des écrivains de langue francaise" und dem "Prix du Roman Francophone" ausgezeichnet.