Ein Land im Chaos
Nada ist erschöpft. "Ich habe das Gefühl, dass die gesamte Last des vergangenen Jahres mir fast die Luft abschnürt", sagt die junge Libanesin, die ihren Nachnamen nicht nennen will. Seit fast einem Jahr arbeitet die Multimedia-Producerin im Homeoffice. Nebenbei beendet sie ihren Master in Marketing und Kommunikation. Sie gibt sich alle Mühe, zu lächeln. Wer Nada kennt, weiß, dass sie das Glas eigentlich immer halb voll sieht. Doch die jetzige Situation setzt ihr sichtlich zu. "Es ist ja nicht nur, dass wir alle gerade im Lockdown sind und die Corona-Krise alle im Griff hat. Ich hatte so viele Pläne im vergangenen Jahr. Wir wollten uns nach einer Wohnung umschauen. Aber nichts geht. Die Explosion hat alles verändert."
Verschleppte Aufklärung der Explosion vom 4. August 2020
Mit dieser Äußerung spielt die junge Frau nicht nur auf die Wirtschaftskrise des Landes an. Sechs Monate ist es her, dass der gewaltige Pilz einer Ammoniumnitrat-Explosion Teile der libanesischen Hauptstadt zerstörte, mehr als 200 Menschen das Leben kostete, mehr als 6000 Bürger verletzte und rund 300.000 Personen obdachlos machte. Die Schäden sind immens, der Wiederaufbau geht nur schleppend voran.
Die libanesischen Behörden hätten es in den letzten sechs Monaten versäumt, der katastrophalen Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 gerecht zu werden, schreibt die Organisation Human Rights Watch. Sie hätten der Öffentlichkeit bisher kaum Einzelheiten zu den schleppenden und undurchsichtigen Untersuchungen der Explosionsursache mitgeteilt. Trotz zahlreicher Beweise und Dokumente, aus denen hervorgeht, dass hochrangige libanesische Politiker und Sicherheitsbeamte seit Jahren von der Existenz des Ammoniumnitrats im Hafen gewusst haben, wurde bisher aus den oberen Reihen niemand zur Rechenschaft gezogen. Auch wenn bei vielen Bürgern die körperlichen Wunden geheilt sind, sind viele bis heute traumatisiert. Sie wünschen sich Aufklärung.
Im strengsten Lockdown der Welt
Doch der mit den Ermittlungen beauftrage Richter Fadi Sawwan lässt seine Untersuchungen mindestens so lange ruhen, als das Land sich im Lockdown befindet. "Hier glaubt aber eigentlich keiner daran, dass die wirklichen Verantwortlichen jemals bestraft werden", sagt Nada. Die Versuche einiger politischer Führer, die Ermittlungen einzustellen, begründen für viele Menschen im Libanon die Notwendigkeit einer unabhängigen internationalen Untersuchung.
Seit Mitte Januar befindet sich der Libanon aufgrund der hohen Corona-Infektionszahlen im Lockdown. Nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums haben sich seit Beginn der Pandemie etwa 310.000 der gut sechs Millionen Bürger infiziert, rund 3400 Menschen sind bisher an Corona gestorben. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab bekannt, dass mehr als 90 Prozent der landesweit verfügbaren Intensivbetten belegt seien. Auch der Sauerstoff geht langsam aus. Aufgrund mangelnder Kapazitäten werden an COVID-19-Erkrankte teilweise in ihren Autos auf den Krankenhausparkplätzen behandelt.
Laut einer Statistik der Universität Oxford befindet sich das Land derzeit im strengsten Lockdown der Welt. Die Maßnahmen sind kaum mit jenen in Deutschland zu vergleichen. Es besteht eine 24-stündige Ausgangssperre. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen weder zur Arbeit noch zum Einkaufen nach draußen. Viele Supermärkte bieten Lieferdienste an. Nur mit einer behördlichen Genehmigung darf man dringend nötige Dinge erledigen.
Ab der kommenden Woche sollen die Restriktionen schrittweise gelockert werden. Der Innenminister der kommissarischen Regierung, Mohammed Fahmi, kündigte eine Öffnung in vier Phasen an. Die erste zweiwöchige Phase soll demnach am Montag beginnen.
Die Lebensmittel gehen aus
Der libanesische Verband der Lebensmittelimporteure hat angesichts der schweren Wirtschaftskrise und der strikten Corona-Beschränkungen Alarm geschlagen, was die Lebensmittelversorgung im Land betrifft. "Zusammen werden diese Faktoren zu einer Verknappung der Lebensmittelvorräte um etwa die Hälfte oder mehr führen", zitierte die staatliche libanesische Nachrichtenagentur NNA aus einer Erklärung des Verbands.
"Es ist bereits soweit", sagt Nada. "Oft können uns die Supermärkte nur noch die überteuerten Produkte liefern oder die, die keiner will, weil alles andere ausverkauft ist." Das könne man sich alles kaum noch leisten. Die libanesische Wirtschaft war bereits vor der Pandemie stark angeschlagen.
Die Nahrungsmittelpreise haben sich aufgrund der Abwertung des libanesischen Pfund innerhalb des vergangenen Jahres verdreifacht. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch leben heute mehr als 55 Prozent der knapp sechs Millionen Libanesen in Armut, das sind rund doppelt so viele wie im Jahr 2019.
Krawalle in Tripoli, weil die Menschen Hunger haben
In den nordlibanesischen Stadt Tripoli ist es in den vergangenen Tagen zu Krawallen gekommen, "weil die Menschen Hunger haben und keine finanzielle Unterstützung vom Staat bekommen", sagt Shafik Abdelrahman. Er ist einer der Gründer der Nichtregierungsorganisation Utopia mit Hauptsitz in Tripoli. Im Fokus ihrer Arbeit stehen soziale Themen und Konflikte.
Tripoli hat etwa 500.000 Einwohner. Es ist die zweitgrößte Stadt des Libanon, 85 Kilometer nördlich der Hauptstadt Beirut gelegen und nach einem Bericht der Weltbank eine der ärmsten Metropolen an der Mittelmeerküste. Auch Nada hat oft darüber nachgedacht, ob es nicht wichtig wäre, genau jetzt auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. "Es gibt so vieles, was wir einfordern müssen. Und dann denke ich wieder, dass ich mich an die Maßnahmen halten sollte", sagt sie. "Aber ich verstehe alle, die protestieren, sehr gut."
Hisbollah-Kritiker Lokman Slim ermordet
Das politische Klima insgesamt sei angespannt, erzählt Shafik Abdelrahman von Utopia. Unter die Demonstranten in Tripoli zum Beispiel hätten sich auch Anhänger verschiedener politischer Lager gemischt, weil sie gegen die einseitige Besetzung verschiedener Sicherheitsposten protestieren wollten. Traditionell gilt Tripoli als politische Hochburg des designierten Ministerpräsidenten Saad Hariri, doch keiner der Posten wurde mit Mitgliedern seiner Partei besetzt - stattdessen kamen Anhänger von Staatspräsident Michel Aoun zum Zug. Mit Blick auf bevorstehende Wahlen gefällt das weder Hariri noch seinen Anhängern.
Dass es im Land brodelt, zeigt auch die Ermordung des bekannten Hisbollah-Kritikers Lokman Slim. Er setzte sich gemeinsam mit seiner Frau mit seinem Dokumentations- und Kulturzentrum UMAM mitten im von der Hisbollah kontrollierten Gebiet Dahiyeh südlich von Beirut für die Aufarbeitung der Geschichte des Libanon ein. Im vergangenen Jahr kam es zu mehreren ungeklärten Ermordungen mit möglicherweise politischem Hintergrund. Lokman Slims Ermordung und auch andere Fälle zeigen, in welchem Ausmaß die politische Opposition mittlerweile unterdrückt wird. Auch bei diesem Mord rechnet wegen einer weit verbreiteten Kultur der Straflosigkeit im Libanon niemand mit Aufklärung.
Das bereitet ihr auch mit Blick auf eine mögliche Corona-Impfung Sorge. Das Land soll Mitte Februar möglicherweise erste Dosen des Impfstoffs der Firma Pfizer/BioNTech bekommen. "Ich traue den Machthabenden nicht zu, den Impfstoff vernünftig bei den notwendigen Temperaturen zu lagern", sagt sie, und spielt damit auf die unsachgemäße Lagerung des Ammoniumnitrats im Hafen von Beirut an, die zur großen Explosion geführt hatte.
Diana Hodali
© Deutsche Welle 2021