Mehr als nur ein Landstreit
Ruhet Ergül, eine 24jährige Krankenschwester aus Deutschland, freut sich auf den Umzug in ihr neues Zuhause in einem abgelegenen Dorf im Südosten der Türkei. Karagöl besteht aus zwei Gebäuden und ist nur über eine 30minütige Fahrt von der nächstgelegenen Stadt Dargeçit zu erreichen – Verwaltungssitz des gleichnamigen Landkreises der interkulturellen Provinz Mardin.
Den Grund für ihre Freude verrät sie ohne Umschweife: "Mein Kind wird in der gleichen Kirche getauft werden, in der auch schon mein Vater seine Taufe empfing." Die Kirche, von der sie spricht, ist rund 1.600 Jahre alt und die Bewohner des Dorfes arbeiten derzeit an ihrer Restaurierung. Bis zur Geburt von Ergüls Töchterchen werden sie wohl damit fertig sein, noch zwei Monate haben sie Zeit. Ergül meint, dass sie sich auf den ersten Blick in ihren Mann verliebt hat: "Meine Familie kommt aus einem anderen aramäischen Dorf, aber sie ist schon vor langer Zeit nach Deutschland ausgewandert. Dort bin ich auch geboren und aufgewachsen. Ich besitze die deutsche Staatsbürgerschaft.
Folgen der Türkisierungspolitik
Meinen Mann lernte ich kennen, als ich vor ein paar Jahren auf Besuch in die Türkei kam. Vier Jahre lebten wir dann in Deutschland, entschieden uns aber, zurück in das Dorf meiner Eltern zu ziehen, vorerst jedenfalls." Ursprünglich hieß das Dorf Derkube, ein aramäischer Name. Im Zuge der staatlichen Türkisierungspolitik der 1950er Jahren wurde es umbenannt in Karagöl, doch noch heute benutzen die Einwohner den alten Namen des Dorfes. 1957 wurde ein so genanntes "Komitee zur Umbenennung von Ortsnamen" eingerichtet, das bis 1978 die Namen von insgesamt 75.000 Siedlungen und geografische Titel überprüfte, um schließlich 28.000 von ihnen zu ändern.
Die meisten dieser Orte liegen im Südosten Anatoliens und trugen zuvor kurdische, arabische oder aramäische Namen.
Vor kurzem jedoch kündigte die türkische Regierung an, als Teil ihrer begonnenen "Demokratisierungsinitiative" zur Lösung der Kurdenfrage die ursprünglichen Ortsnamen möglicherweise wieder einzuführen. So hoffen nun auch die Aramäer darauf, dass sie von dieser Kurskorrektur profitieren könnten. Johny Messo, Vorsitzender der "Syriac Universal Alliance" (SUA), der Dachorganisation aller aramäischen Organisationen, zeigt sich begeistert von diesem möglichen Wandel.
Laut Messo gibt es keine wissenschaftlichen Daten über die aramäische Bevölkerung, die im Irak, Syrien, in der Türkei und in der Diaspora lebt. Er schätzt ihre Zahl jedoch auf eine halbe Million in Europa und auf 25.000 in Istanbul. Johny Messo vermutet, dass ihre Zahl im südostanatolischen Stammland, im Gebiet Turabdin bei rund bei 3.500 liegt.
Ursachen für den aramäischen Exodus
Mehrere Gründe veranlassten die Aramäer dazu, die Türkei und Turabdin zu verlassen. Messo nennt als Ursachen hierfür nicht nur die wirtschaftliche Faktoren, sondern auch die Verfolgung durch andere ethnische Gruppen. Schließlich aber trug auch die Weigerung des türkischen Staates, den Aramäern grundlegende kulturelle Rechte einzuräumen dazu bei, dass sie in den 1960er Jahren in Massen das Land verließen.
Während der 1990er Jahre kam es zu einer weiteren Auswanderungswelle türkischer Aramäer, als sie ihr Land aus Sicherheitsgründen verlassen mussten. Zu dieser Zeit war die Region Schauplatz heftiger Zusammenstöße zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die von der Türkei, der EU und den USA bis heute als terroristische Organisation angesehen wird.
In dieser Zeit wurden schätzungsweise 4.000 Dörfer evakuiert, darunter auch Karagöl. "In den 1970er Jahren lebten noch 20 Familien in dem kleinen Dorf, aber viele von ihnen wanderten nach Europa aus und nur zwei Familien blieben zurück. 1995 wurde Karagöl niedergebrannt und wir waren gezwungen, in ein anderes aramäisches Dorf umzusiedeln.
Sechs Jahre später aber bekamen wir die Erlaubnis, in unser Dorf zurückzukehren", erzählt Hazni Ergül, Ruhet Ergüls Schwiegervater. Ruhet Ergül gehört zu dem Teil der türkisch-aramäischen Diaspora, der in die Heimat zurückkehrte. Genauso wie die Familie ihres Ehemannes steht sie nun vor der Aufgabe, nach einer unfreiwilligen Pause ihr Leben von Grund auf neu zu gestalten. Diese Rückkehr aber ist alles andere als leicht. Seitdem sich die Sicherheitslage in der Region relativ entspannt hat, entschlossen sich die in der Diaspora lebenden Aramäer entweder dazu, ganz zurückzukehren oder ihre Heimat zumindest häufiger zu besuchen als zuvor.
Streitfall Mor Gabriel
Bei ihrer Ankunft mussten sie aber feststellen, dass ihr Land inzwischen von den Bewohnern der umliegenden Ortschaften bewirtschaftet wurde, weil die Katasterangaben zu deren Gunsten verändert worden waren. Dies führte in der Folge zu zahlreichen Streitigkeiten, von denen nicht wenige vor Gericht verhandelt werden. Der prominenteste unter diesen Prozessen ist wahrscheinlich der, der um das aramäische Kloster Mor Gabriel geführt wird.
Der Streit um Mor Gabriel begann 2008, als türkische Regierungsbeamte im Rahmen einer landesweiten Aktualisierung der Grundbucheinträge - ein Modernisierungsprojekt, mit dem die Türkei Auflagen der EU nachkam - die Grenzen um Mor Gabriel und die umliegenden Dörfer neu zogen. In nur fünf Jahren hatte die Türkei die Kataster des halben Landes erneuert.
Zugleich wurden einige neue Gesetze verabschiedet, nach denen unbewirtschaftetes Land an den Staat fällt oder zu einem Wald umgewidmet wurde, wodurch es in die Zuständigkeit der Forstverwaltung kam. Angesichts dieser neuen Kataster-Zuordnungen war es für die vormaligen Besitzer schwierig, ihr Land zu nutzen. Daten der SUA deuten daraufhin, dass Mor Gabriel bei weitem kein Einzelfall ist: Die Organisation gibt an, dass mindestens 15 aramäische Ortschaften laufende oder anhängige Gerichtsverfahren gegen die Forstverwaltung oder gegen benachbarte Orte angestrengt haben.
Mor Gabriel allein stand bereits im Zentrum von nicht weniger als vier solcher Prozesse. Gegen die Nachbarstädte hat das Kloster bereits gewonnen, nicht jedoch gegen die Forstverwaltung. Gegen beide Urteile laufen Berufungen, während die Entscheidungen der lokalen Gerichte in den beiden anderen Verfahren in Kürze erwartet werden.
Aufflammender muslimisch-christlicher Disput
Die Angelegenheit wurde auch zu einem muslimisch-christlichen Disput, als die Nachbardörfer in ihrer Klage vor Gericht angaben, dass die Mönche des Klosters "anti-türkischen Aktivitäten" nachgingen, dass sie auf illegale Weise versuchten, Kinder zum Christentum zu bekehren, dass die Mor Gabriel Gemeindestiftung sich dort ansiedeln würde, wo es ihr gerade passe – ohne sich um Genehmigungen zu kümmern und dass sie auch noch das Gesetz zur Einheit der Bildung verletze. Die Aramäer ihrerseits klagen darüber, dass sie nicht genügend Lehrer haben, um ihren Kindern wenigstens Grundkenntnisse des Aramäischen zu vermitteln.
Hinzu käme, dass sie, anders als die griechischen, armenischen und jüdischen Gemeinschaften, nicht als religiöse Minderheit anerkannt werden, obwohl sie im Vertrag von Lausanne, einem der Gründungsdokumente der Türkischen Republik, als solche bezeichnet wurden. Johny Messo von der SUA unterstreicht, dass, falls die Aramäer gemäß des Vertrags von Lausanne als Minderheit anerkannt würden, "auch die Grundlagen für ihren Schutz und ihre Entwicklung innerhalb der türkischen Gesellschaft" gesichert wären, "wozu die aramäische Sprache genauso zählt wie die religiösen, kulturellen sowie Eigentumsrechte."
Außerdem betont er, dass die Gerichtsverfahren gegen Mor Gabriel so etwas wie ein Weckruf für die Gemeinschaft gewesen seien. "Seitdem diese Prozesse laufen, ist uns klar geworden, dass wir es alle mit ähnlichen Schwierigkeiten und Streitigkeiten um Land zu tun haben – deshalb haben wir uns zur Zusammenarbeit entschlossene, um unsere Probleme zu lösen."
Sicherheitsgarantien durch die Regierung
Als sichtbaren Ausdruck dieser Kooperation schickte die SUA Briefe an Regierungsvertreter, darunter an Präsident Abdullah Gül und Ministerpräsident Tayyip Erdogan. In einem dieser Briefe aus dem Mai dieses Jahres forderte die SUA von Erdogan "eine öffentliche Zusicherung, dass die Eigentumsrechte der in ihre Heimat zurückkehrenden Aramäer von Seiten der türkischen Regierung sowie aller zuständigen Regierungsorgane geschützt werden."
Ruhet Ergül ist jedenfalls in ihre Heimat zurückgekehrt, bevor eine solche Garantie abgegeben wurde. Sie würde gern vier oder fünf Kinder bekommen, doch die elf in Karagöl lebenden Kinder müssen heute noch ein Internat in einem anderen aramäischen Dorf besuchen, das weit entfernt von Karagöl ist und das lediglich türkischen Grundschulunterricht anbietet. Auf die Frage nach möglichen Problemen bei der weiteren Ausbildung ihrer Kinder, antwortet Ergül schlicht: "Dann kehren wir eben nach Europa zurück. Dort ist es leicht, eine aramäische Ausbildung zu bekommen."
Ayşe Karabat
© Qantara.de 2009
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol