Reform statt Revolution
Mit den Massenprotesten, die im Februar 2011 vor allem in Marokkos Großstädten begannen, entstand eine neue Bewegung – das "Mouvement 20 Février", inzwischen kurz "M20" genannt.
Bis dahin unübliche Demonstrationen prangern seither Armut, Analphabetentum und Arbeitslosigkeit an und fordern soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Balance, Bekämpfung der Korruption und das Ende der Bevormundung.
König Mohammed VI. und sein Staatsapparat reagierten schnell und sensibel. Zahlreiche arbeitslose Akademiker bekamen eine Anstellung; Grundnahrungsmittel wurden subventioniert.
Unveränderte Machtarchitektur
Am wichtigsten war aber ein anderer Schritt: Nach einer Thronrede am 9. März setzte der König eine Kommission ein, die drei Monate später einen Entwurf für eine neue Verfassung vorlegte. Das neue Grundgesetz wurde in einem Referendum am 1. Juli mit großer Mehrheit angenommen. Es erkennt erstmals das Grundprinzip der Gewaltenteilung an und verspricht Parteien, Parlament und Gerichtsbarkeit zu demokratisieren.
Der König muss den Premierminister nun aus den Reihen der Partei berufen, die bei demokratischen Wahlen die meisten Stimmen erzielt. Er selbst ist der Verfassung zufolge nicht mehr "heilig", bleibt aber der "unantastbare Herrscher der Gläubigen" und behält außer in religiösen Dingen auch in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik das Sagen. Die Machtarchitektur hat sich also in wichtigen Punkten nicht verändert.
Auf dieser Basis fanden am 25. November vorgezogene Parlamentswahlen statt. Die "M20" demonstriert weiterhin wöchentlich und weitgehend gewaltfrei in den Städten; ihr Aufruf zum Wahlboykott verpuffte aber. Kritikwürdig ist sicherlich, dass nur 13,5 von rund 20 Millionen Wahlberechtigten registriert waren. Marokkaner, die im Ausland leben, in der Armee oder den Ordnungskräften dienen sowie Inhaftierte konnten gar nicht wählen.
Der 25. November wurde dennoch zum friedlichsten Wahltag in der Geschichte des Landes. Früher war die Wahlbeteiligung oft so niedrig, dass die Legitimität des Ergebnisses in Frage stand. Diesmal erreichte sie mit 45,4 Prozent einen Höchstwert.
"Der Staat ist der König"
Erwartungsgemäß gewann die moderat islamistische "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (PJD). Sie präsentierte sich als pragmatisch. Mit der türkischen AKP als Vorbild, verdankte sie ihren Erfolg dem sozialen Engagement ihrer Vertreter sowie einer intelligenten Kommunikationsstrategie. Ihre Parole "L'État c'est le Roi" ("Der Staat ist der König") betonte ihre Loyalität zur Krone.
Mohammed VI. hat nun den PJD-Vorsitzenden Abdelilah Benkirane zum Premier ernannt. Es heißt, dessen Partei habe auch Stimmen von der illegalen und als "fundamentalistisch" geltenden Bewegung "Al Adl Wal Ihsane" ("Gerechtigkeit und Wohlfahrt") bekommen, die inzwischen in der "M20" den Ton angibt. Es bleibt spannend, wie sich der neue Regierungschef im Amt verhalten wird, und wie sich das Verhältnis zwischen der moderaten Partei und der rigoristischen Bewegung, die sich beide auf den Islam berufen, entwickelt.
Auch die Rolle der parlamentarischen Opposition ist künftig nicht mehr zu unterschätzen. Sie hat klar definierte Aufgaben und kann die Gesetzgebung beeinflussen. Nach der neuen Verfassung müssen auch ihre Vorschläge im Parlament diskutiert und publik gemacht werden.
Die Wahlen waren ein Schritt in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Viel spricht dafür, dass die neue Verfassung mehr Transparenz und mehr Mitwirkungsmöglichkeiten bewirkt und so das Land weiter stabilisiert. Korruption wird künftig genauer beobachtet und die Parteien werden konsequenter zur Rechenschaft gezogen. Abgeschlossen ist der Prozess allerdings noch nicht – der Weg Marokkos hin zu einer "echten" Demokratie ist noch weit.
Helmut Reifeld
© Entwicklung und Zusammenarbeit 2012
Helmut Reifeld leitet das Büro der Konrad Adenauer Stiftung in Marokko.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de