"Der Westen muss aktiv für die Demokratie werben"

Saad Eddin Ibrahim ist einer der führenden Menschenrechtsaktivisten in Ägypten und wurde bereits mehrfach verhaftet. Er spricht über die Chancen eines demokratischen Wandels in der islamischen Welt.

Interview von Giancarlo Bosetti

Saad Eddin Ibrahim; Foto: AP
Dr. Saad Eddin Ibrahim war lange Zeit Professor für Soziologie an der renommierten "American University of Cairo" und Gründer des "Ibn Khaldoun Center for Development Studies" sowie der "Arabischen Organisation für Menschenrechte". Er ist heute Visiting Professor der Islamwissenschaft an der Harvard University in den USA.

​​Die schweren Unruhen und Massendemonstrationen gegen die autoritären Regime in Tunesien, Algerien und Ägypten lassen den Schluss zu, dass die Demokratie in den arabischen Ländern doch eine Chance haben könnte. Waren Sie von den jüngsten Ereignissen überrascht?

Saad Eddin Ibrahim: Das bahnte sich zwar schon seit ein paar Monaten an, aber es kam dennoch relativ unerwartet. Viele Menschen sprachen in den vergangenen zehn bis 15 Jahren von der "arabischen Einzigartigkeit", die vor 25 Jahren noch "islamische Einzigartigkeit" genannt wurde, weil die islamische Welt irgendwie anders wahrgenommen wurde als der Rest der Welt und deshalb keine Demokratien aufbauten.

Diese sogenannte islamische Einzigartigkeit beruht auf falschen Annahmen, denn 75 Prozent der muslimischen Bevölkerung wird de facto von demokratisch gewählten Herrschern regiert (Indonesien, Malaysia, Bangladesch, Albanien... nicht zu vergessen Indien mit seinen 165 Millionen Muslimen).

Nehmen wir zum Beispiel Ägypten: Dort wurde das erste Parlament 1866 gebildet, also vier Jahre vor der Einheit Italiens mit der Hauptstadt Rom. Ägypten war für beinahe 100 Jahre eine Demokratie, bis Nassers Revolution 1952 die ägyptische und arabische liberale Ära beendete. Ich behaupte, die Ursache für ihr Ende war die Ausrufung des Staates Israel.

Womit begründen Sie diese Behauptung?

Ibrahim: Die besiegten arabischen Armeen gingen nach Hause und suchten einen Sündenbock, den sie für Ihre Niederlage im ersten arabisch-israelischen Krieg verantwortlich machen konnten. Anstatt zu erkennen, dass es viele Gründe für ihr Scheitern gab, beschuldigten sie die gewählten, liberalen Regierungen. Nur drei Monate nach dem Waffenstillstandsabkommen mit Israel gab es den ersten Staatsstreich in Syrien, gefolgt von Ägypten und dem Irak.

Die arabischen Regime – seien sie nun semi- oder ganz autoritär – inszenieren sich selbst als Bollwerk gegen eine drohende Machtergreifung von Islamisten. Was in Tunesien geschah, war jedoch eine ganz und gar säkulare Folge von Ereignissen – keine Spur von Islamismus...

​​Ibrahim: Die Islamisten können bestenfalls 20 bis 30 Prozent der Stimmen erhalten. Nicht mehr. Selbst in Ägypten, wo es seit 80 Jahren die Muslimbruderschaft gibt, läge das Ergebnis in diesem Rahmen. Das zeigen die Studien und Umfrageergebnisse des "Ibn Khaldun Center for Development Studies", wo ich über einen Zeitraum von 30 Jahren gearbeitet habe. Trotzdem nutzen die Diktatoren in unserer Region die Islamisten als Schreckgespenst, um nicht nur dem Westen, sondern auch der lokalen Mittelschicht Angst zu machen.

Islamisten gibt es in Tunesien wie in Ägypten, Marokko und Algerien. Sie stellen nicht die Mehrheit, aber sie sind gut organisiert. Das ist der Grund dafür, dass sie bei Wahlen den größten Stimmenanteil auf sich vereinen würden. Und darum werden sie als die vorherrschende Gruppe aus den Wahlen hervorgehen.

Ist das Regime Mubaraks genauso unpopulär wie das von Ben Ali?

Ibrahim: Es ist sogar noch unbeliebter.

Wie steht es um die Oppositionsparteien in Ägypten?

Ibrahim: Wenn es faire und freie Wahlen in Ägypten gäbe, würde Mubaraks Partei etwa 40 Prozent der Stimmen erhalten, die Muslimbruderschaft 20. Weitere 20 Prozent bekäme die Wafd-Partei, die 1919 gegründet, aber unter Nasser verboten wurde. Vor 20 Jahren wurde sie wiederbelebt. Sie ist vor allem auf dem Land und in der Mittelschicht verwurzelt und rekrutiert dort die meisten ihrer Wähler. Mubaraks Partei würde zwar den größten Stimmenanteil erhalten, doch bildeten die kleineren Parteien ein Gegengewicht.

Haben Sie je darüber nachgedacht, selbst wieder am politischen Leben teilzunehmen?

Marsch der Million - Versammlung auf dem Tahrir-Platz in Kairo; Foto: dpa
Politische Zeitenwende in der arabischen Welt: Auf dem zentralen Tahrir-Platz in Kairo versammelten sich am 1.2.2011 rund eine Million Menschen, um für Freiheit und Demokratie am Nil zu demonstrieren. Und auch in anderen arabischen Staaten, in Jordanien, Algerien und im Jemen, begehren die Menschen gegen die autoritären Herrschaftssysteme in ihren Ländern auf.

​​Ibrahim: 2004 habe ich Mubarak herausgefordert, indem ich erklärte, dass ich mich als Kandidat bei der Präsidentschaftswahl aufstellen lassen würde und dass er die Verfassung ändern und mir die Kandidatur erlauben solle, wenn er von sich überzeugt sei. Bis dahin ließ die Verfassung keine weiteren Kandidaten zu. Unter öffentlichem Druck gab Mubarak nach und stimmte der Verfassungsänderung 2005 zu, ein Jahr, nachdem ich meine Kampagne gestartet hatte. Doch er stellte sicher, dass ich trotzdem nicht würde kandidieren können. Der Präsidentschaftskandidat musste Mitglied einer rechtmäßig anerkannten Partei sein und es gab keine. Außerdem durfte er ausschließlich die ägyptische Staatsbürgerschaft haben, während ich inzwischen eine doppelte Staatsbürgerschaft habe.

In einem Artikel über die Rolle der Amerikaner zur Entwicklung der Lage in den arabischen Ländern haben Sie Obama dafür kritisiert, dass er sich zu wenig für die Demokratisierung einsetzt. Glauben Sie immer noch, dass Obama falsch handelt?

Ibrahim: Als Obama an die Macht kam, sagte man ihm, der arabisch-israelische Konflikt sei das Hauptproblem im Nahen Osten und dass er als erstes diesen Konflikt lösen müsse, um in der Region etwas erreichen zu können, auch in Bezug auf den Iran und Afghanistan. Das war zum Teil korrekt, aber Obama vernachlässigte das Werben für Demokratie. Er hat nicht verstanden, dass Demokratie und Frieden die zwei Seiten einer Medaille sind und dass er sich für beides zugleich einsetzen muss.

Was würden Sie der EU und den europäischen Regierungen raten, um den Demokratisierungsprozess in der Region zu fördern?

Ibrahim: Sie sollten das tun, was Obama vernachlässigt hat: für die Demokratie werben. Sie sollten bereit sein, jedem Land zu helfen, das den Weg der Demokratie beschreiten will und Assoziierungsabkommen mit oder die Mitgliedschaft in der EU als Lohn in Aussicht stellen.

Haben die Golfstaaten Einfluss auf die Entwicklung im Maghreb und Maschrek?

Ibrahim: Kuwait ist ein gutes Vorbild. Es ist seit der Unabhängigkeit vor über 50 Jahren eine Demokratie, mit nur einer Unterbrechung während des Ersten Golfkrieges. Nach Kuwait folgt Bahrain. Die dortige Demokratie ist nicht so alt wie die Kuwaits, aber sie ist sehr stabil.

Welche Rolle spielt Saudi-Arabien?

Ibrahim: Saudi-Arabien wird eines der letzten Länder sein, die sich demokratisieren. 2005 haben Sie einmal in einer Art Experiment Kommunalwahlen abgehalten. Die Entwicklung war sehr dynamisch, aber seitdem hat sich der Prozess offenbar wieder verlangsamt. Saudi-Arabien hat alles, was eine lebensfähige Demokratie braucht, aber das Königshaus und das religiöse Establishment halten nach wie vor an der Überzeugung fest, Demokratie sei ein westliches Produkt, das ihre Macht gefährdet.

Nach Meinung einiger arabischer Gelehrter ändern sich die politischen Parameter in der Türkei: Früher haben die Kemalisten darauf geachtet, die Religion zu kontrollieren, aber heute wird das Land von einer islamisch-demokratischen Partei regiert.

Ibrahim: Da haben Sie Recht. Das ist ein gutes Beispiel für eine islamische Partei, die an die Demokratie glaubt und die Menschenrechte achtet. Ich sehe hier eine Analogie zu den christlich-demokratischen Parteien in Europa. Diese Parteien handeln innerhalb eines christlich definierten Referenzrahmens, aber sie glauben an Demokratie und beteiligen sich am politischen Spiel. Von diesem Modell kann man etwas lernen.

Interview: Giancarlo Bosetti

© ResetDoc 2011

Übersetzung aus dem Englischen von Sabine Kleefisch

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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