Der Islam ist eine europäische Religion
So sollte es nicht laufen. Monatelang wurde uns erzählt, ein Verbot des Baus von Minaretten in der Schweiz sei zum Scheitern verurteilt. Letzte Umfragen gingen davon aus, dass etwa 34 Prozent der Schweizer Bevölkerung für diese schockierende Initiative stimmen würden. Noch am vergangenen Freitag hatten, anlässlich eines Treffens in Lausanne, mehr als 800 Professoren, Studenten und Bürger keinerlei Zweifel daran, dass das Referendum scheitern würde, und konzentrierten sich deshalb auf die Frage, was sich aus dieser dummen Initiative für eine bessere Zukunft lernen lasse.
Alarmierendes Signal
Jetzt ist dieses Vertrauen zerstört, weil 57 Prozent der Wähler getan haben, wozu die Schweizer Volkspartei (SVP) sie gedrängt hat - ein alarmierendes Signal dafür, dass diese populistische Partei den Ängsten und Erwartungen der Menschen möglicherweise am nächsten ist.
Zum ersten Mal seit 1893 hat eine Initiative mit klar diskriminatorischem Kern, die eine einzelne Bevölkerungsgruppe aussondert, in der Schweiz Erfolg. Zwar darf man hoffen, dass das Verbot auf europäischer Ebene abgelehnt wird, das Ergebnis jedoch ist deshalb nicht weniger alarmierend. Was ist los in der Schweiz, dem Land meiner Geburt? Es gibt in der Schweiz überhaupt nur vier Minarette, warum also ist es ausgerechnet dort zu einer solchen Abstimmung gekommen?
Mein Land sieht sich, wie viele andere europäische Länder auch, mit einer nationalen Reaktion auf die neue Sichtbarkeit europäischer Muslime konfrontiert. Die Minarette sind bloß ein Vorwand - die SVP wollte ursprünglich eine Kampagne gegen die islamischen Traditionen des Schlachtens von Tieren fahren, fürchtete dann aber, den schweizerischen Juden zu nahe zu treten und verlegte sich stattdessen auf die Minarette.
Von Symbolen und Feindbildern
Ein jedes Land in Europa hat seine eigenen Symbole oder Themen, mittels derer es die europäischen Muslime ins Visier nimmt. In Frankreich ist es das Kopftuch oder die Burka; in Deutschland sind es die Moscheen; in Großbritannien ist es die Gewalt; in Dänemark sind es die Karikaturen; in den Niederlanden ist es die Homosexualität - und so weiter. Es ist wichtig, hinter diese Symbole zu schauen, um zu begreifen, was wirklich geschieht - in Europa im Allgemeinen und im Besonderen in der Schweiz. Im Zuge einer echten und tiefen Identitätskrise der europäischen Länder und Bürger ist die neue Sichtbarkeit von Muslimen problematisch - und furchterregend.
In eben jenem Augenblick, da die Europäer sich in einer sich globalisierenden, migratorischen Welt fragen "Wo sind unsere Wurzeln?", "Wer sind wir?", "Wie sieht unsere Zukunft aus?", bemerken sie um sich herum neue Bürger, neue Hautfarben, neue Symbole, an die sie nicht gewöhnt sind. In den letzten 20 Jahren ist der Islam mit so vielen Kontroversen in Verbindung gebracht worden - Gewalt, Extremismus, Meinungsfreiheit, Geschlechterdiskriminierung, Zwangsehe, um nur einige zu nennen -, dass es dem Normalbürger schwer fällt, die neue muslimische Präsenz positiv zu beurteilen.
Angst vor dem Unbekannten
Angst und spürbares Misstrauen sind weit verbreitet. Wer sind die? Was wollen die? Solche Fragen werden mit weiterem Argwohn aufgeladen, wo vom Islam als expansionistischer Religion geredet wird. Wollen diese Leute unser Land islamisieren?
Die Kampagne gegen die Minarette wurde von eben solchen Ängsten und Behauptungen befeuert. Wähler wurden mobilisiert, indem man manipulativ an weit verbreitete Ängste und Gefühle appelliert hat. Ein Plakat zeigte eine Frau in Burka vor einer von waffengleichen Minaretten besetzten Schweizer Flagge. Es wurde behauptet, dass der Islam mit den Werten der Schweiz grundsätzlich unvereinbar sei. (In der Vergangenheit hat die SVP gefordert, mir die Staatsbürgerschaft zu entziehen, weil ich islamische Wert allzu offen verteidigt habe).
Ihre mediale Strategie war einfach, aber effektiv. Schüre Streit, wo immer möglich. Gebe den Schweizern das Gefühl, Opfer zu sein: Wir werden belagert, wir werden von den Muslimen stillschweigend kolonisiert, wir verlieren unsere ureigenen Wurzeln und unsere Kultur. Diese Strategie ist aufgegangen. Die Mehrheit der Wähler sendet ihren muslimischen Mitbürgern eine klare Botschaft: Wir trauen Euch nicht; für uns ist der beste Muslim einer, den man nicht sieht. Wem soll man die Schuld dafür geben? Ich sage den Muslimen seit Jahren, dass sie in ihren jeweiligen westlichen Gesellschaften positiv in Erscheinung treten, aktiv sein und Initiative zeigen müssen.
Teilverantwortung der Muslime
In der Schweiz haben sich die Muslime in den zurückliegenden Monaten bemüht, im Verborgenen zu bleiben, um eine Konfrontation zu vermeiden. Es wäre sinnvoller gewesen, neue Allianzen mit all jenen Schweizer Organisationen und Parteien zu schmieden, die gegen die Initiative waren. Die Muslime in der Schweiz tragen also einen Teil der Verantwortung, doch muss man hinzufügen, dass sich die politischen Parteien in Europa wie in der Schweiz haben einschüchtern lassen und vor einer couragierten Politik zugunsten eines religiösen und kulturellen Pluralismus zurückscheuen.
Es ist, als gäben die Populisten den Ton an und die anderen liefen hinterdrein. Sie haben versäumt festzustellen, dass der Islam mittlerweile auch eine Religion der Schweiz und Europas ist und dass muslimische Bürger zu großen Teilen "integriert" sind. Dass wir vor weit verbreiteten Herausforderungen wie der Arbeitslosigkeit, der Armut und der Gewalt stehen - Herausforderungen, denen wir uns gemeinsam stellen müssen.
Wir können nicht nur den Populisten die Schuld geben - das Versagen ist ein größeres, ein Mangel an Courage, ein erschreckender und kleingeistiger Mangel an Vertrauen in die neuen muslimischen Mitbürger.
Tariq Ramadan
© Tariq Ramadan/Global Viewpoint
Der Autor lehrt Islamwissenschaft an der Universität Oxford. Er ist Bürger der Schweiz. In Großbritannien ist vor kurzem sein Buch "What I Believe" erschienen.