"Okzidentalisten" verzweifelt gesucht
Nicht erst seit gestern sind die Beziehungen zwischen dem Westen und den Muslimen sehr gespannt. Dieses schwierige Verhältnis hat mit dem 11. September sogar eine noch prekärere Dimension angenommen. Viel wurde in den letzten Jahren zu diesem Thema geschrieben, von muslimischen wie westlichen Autoren. Die Veröffentlichung von Francis Fukuyamas Das Ende der Geschichte von 1992 und Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen von 1998 stärkte bei vielen westlichen Intellektuellen die Überzeugung, dass eine Versöhnung zwischen den Muslimen und dem Westen unmöglich und ein eskalierender Konflikt unvermeidlich ist.
Aber nicht nur einflussreiche Think Tanks und Institute haben diese Argumentationslinie aggressiv verfolgt, sondern auch extremistische religiöse und politische Kräfte in Europa wie Amerika. Vor diesem Hintergrund stellt sich die entscheidende Frage, wie diese Situation zu verändern ist, denn dass sie sich ändern muss, ist eine Notwendigkeit. Haben Muslime eine Strategie, ein Programm, wie dieses zu leisten ist? Meine Antwort hierauf fällt derzeit negativ aus.
Oberflächliche Kenntnisse über den Westen
Trotz der starken anti-westlichen Bewegungen und Einstellungen, die die muslimische Welt der letzten 150 Jahre auszeichnen, ist festzustellen, dass muslimische Intellektuelle, insbesondere die Religionsgelehrten, über den Westen ein höchstens oberflächliches Wissen vorzuweisen haben. Tatsächlich wurden von ihnen auch kaum ernsthafte Versuche unternommen, die westliche Philosophie, seine Zivilisation und Geschichte eingehend zu studieren.
Noch heute dominieren bei unseren Religionsgelehrten die gleichen stereotypen Sichtweisen über den Westen, die auch die Sicht des Westens auf die Muslime und den Islam zur Zeit der Kreuzzüge kennzeichneten. Die Ulema glauben noch immer, dass der Westen einzig für Trunkenheit steht, für sexuelle Freizügigkeit, Unmoral und alle anderen Formen liederlicher Gelüste und Vergnügungen – und so vermitteln sie es auch den Gläubigen.
Dieser Ansatz verhinderte, dass wir von den guten Seiten, die der Westen zu bieten hat, hätten lernen können, und dies schließt viele Aspekte unseres eigenen wissenschaftlichen Erbes ein, die der Westen von uns übernahm und weiterentwickelte.
Stattdessen wird in weiten Kreisen der muslimischen Welt der Hass auf den Westen als wichtigstes Zeichen von Frömmigkeit angesehen. Diese Einstellung entwickelte sich in der Kolonialzeit und hätte mit dem Ende der europäischen Kolonien aufgegeben werden müssen. Vielmehr aber ist zu beobachten, dass diese Überzeugung seit dieser Zeit nur noch stärker und mächtiger wurde, so dass sie inzwischen derart tief verwurzelt ist, dass es muslimischen Reformern fast unmöglich ist, sie zu bekämpfen.
Kritisches, sachliches Studium des Westens notwendig
Im Westen wurden unzählige Forschungseinrichtungen für das Studium des Islam und der muslimischen Kultur und Geschichte gegründet, und nicht wenige westliche Universitäten widmen diesen Fragen eigene Fachbereiche. Entstanden ist eine reiche Forschungsliteratur. In der muslimischen Welt hingegen gibt es höchstens zwei oder drei solcher Einrichtungen, die sich mit modernen wissenschaftlichen Methoden dem Studium des Westens widmen.
Universitäten in muslimischen Ländern hätten Fachbereiche aufbauen müssen, die sich dem Studium des Westens annehmen, und privat wie staatlich alimentierte Institutionen mit diesem Auftrag hätten ebenso gegründet werden müssen. Und doch: Es gibt sie nicht. Wir brauchen solche Einrichtungen aber dringender als je zuvor. Sie müssen sich dem Studium der westlichen Geschichte und Kultur in kritischer und sachlicher Weise annehmen, so dass die Muslime sich nicht nur der Begrenztheit und der Schwächen der heutigen westlichen Zivilisation bewusst sind, sondern auch ihre Vorzüge kennen lernen, den Aspekten, von denen sie lernen und die sie übernehmen können.
Muslimische Doppelmoral
Die muslimische Welt pflegt dem Westen gegenüber eine doppelte Moral. Einerseits stehen sie ihm in offener Feindschaft gegenüber und beharren darauf, dass Muslime sich von der westlichen Kultur so weit es geht fernhalten sollten. Gleichzeitig aber wünschen sich viele von ihnen nichts sehnlicher, als in den Westen zu migrieren!
Zweimal war ich in Amerika, wo ich einige Muslime traf, die Amerika zwar als den "großen Satan" bezeichneten, während sie aber gleichzeitig von den wirtschaftlichen Vorzügen und den Chancen profitierten, die das Land ihnen zu bieten hat. Sie geben mit ihren amerikanischen Pässen an oder, wenn sie noch nicht in deren Besitz sind, hoffen inständig auf den Tag ihrer Einbürgerung. Woher kommt, so muss gefragt werden, diese Doppelmoral? Warum, wenn sie wirklich so anti-westlich eingestellt sind, verlassen diese Muslime dann nicht einfach das Land und kehren dorthin zurück, wo so viele von ihnen herkommen, in die Heimat, die sie noch immer als dar ul-Islam, das "Haus des Islam" ansehen?
Ich glaube, dass es viele positive Aspekte der westlichen Kultur und Gesellschaft gibt, die auch die frühe Geschichte des Islam kennzeichneten. In vielen muslimischen Ländern dagegen sind Gruppen, die dem Islam dienen wollen, harten Restriktionen ausgesetzt. Deshalb ist es so bedrückend, dass praktisch der ganze Fokus muslimischer Gruppen im Westen auf die Anerkennung ihrer islamischen kulturellen Identität ausgerichtet ist, und dies nicht selten sogar im ungesunden Übermaß.
Der wirkliche Konflikt zwischen Muslimen und dem Westen besteht heute im Bereich der Ideen. Militärisch wurden die Muslime schon im vorvergangenen Jahrhundert besiegt, und anstatt seitdem ernsthaft in der Lage gewesen zu sein, den Westen mit Waffen niederzuringen, hängen muslimische Länder vollständig von westlicher Militärhilfe ab. Um ihre Verteidigung aus eigener Kraft übernehmen zu können, bedarf es zuerst einem wirklichen Verständnis des Westens; dafür brauchen wir endlich ein Gegenstück zu den westlichen Orientalisten: also "Okzidentalisten".
Diese Gelehrten aber dürfen, anders als die klassischen Orientalisten es in Bezug auf den Orient waren, den Westen nicht nur einseitig kritisch betrachten, sondern müssen neben den Schwächen auch die Stärken des Westens objektiv beleuchten. Die meisten Orientalisten, stellte Edward Said in seinem Magnum Opus Orientalismus so brillant heraus, folgten diesem Anspruch in keiner Weise, sondern dienten letztendlich vor allem dem Machtanspruch des westlichen Imperialismus. Die muslimische Welt hingegen braucht Okzidentalisten, die sich dem Studium des Westens vorurteilsfrei und objektiv annehmen.
Islamophobie im Westen
Deshalb ist es von solch entscheidender Bedeutung, dass sie ernsthaft daran arbeiten, dem Klima von Hass und Misstrauen zwischen Muslimen und dem Westen entgegenzuarbeiten. Leider sorgen jedoch sowohl der Egoismus und der grob vereinfachende Ansatz vieler westlicher Muslime, als auch einige christliche und jüdische religiöse und halb-religiöse Kräfte für ein Erstarken islamfeindlicher Stimmungen in der gesamten westlichen Welt.
Die Praxis des Propheten Mohammed sah vor, normale und beständige Verhältnisse zu schaffen, indem er die Bedingungen, die unter seinen Widersachern herrschten, akzeptierte und nicht komplett zu zerstören suchten. Ziel war es dabei immer, das Klima von Hass und Gewalt zu unterbinden. Dies ist es, was auch die heutigen Muslime tun müssen, ohne dabei all das zu vernachlässigen, was ihr Glaube ihnen an Pflichten auferlegt.
Muslime dürfen dem Westen nicht in einer manichäischen Gut/Böse-Optik begegnen. Sie müssen von den guten Dingen, die ihnen der Westen zu bieten hat, lernen, gleichzeitig jedoch die Schwächen erkennen und sich von ihnen fernhalten – denn alles Gute, egal, woher es kommt, ist ein Wert, der der gesamten Menschheit zugute kommt.
Maulana Waris Mazhari
© Qantara.de 2009
Übersetzung aus Urdu von Yoginder Sikand
Maulana Waris Mazhari, Absolvent der Hochschule Dar ul-Ulum Deoband, ist Herausgeber der in Neu-Delhi ansässigen Zeitschrift Tarjuman Dar ul-Ulum, dem offiziellen Organ der Old Boys' Association der Deoband Madrasa. Er ist zu erreichen unter der Adresse mazhariwaris@gmail.com.
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