Risse im Fundament

Steter Tropfen höhlt den Stein: Trotz massiver Repressionen setzt die Reformbewegung um Mehdi Karrubi und Mir Hossein Mussawi ihre Proteste weiter fort und entdeckt neue Formen des Widerstands gegen das Regime. Ghasem Toulany informiert.

Iranerin demonstriert für Mussawi in Teheran; Foto: AP
Wieder erstarkte grüne Protestbewegung: Auch die Unterdrückung der Protestbewegung vom vergangenen Sommer hat die Anhänger des Reformlagers um Mussawi und Karrubi keinesfalls lähmen können.

​​Die im Iran regierenden Ayatollahs hatten sich gewiss den diesjährigen Jahrestag der Besetzung der US-amerikanischen Botschaft in Teheran am 4. November ganz anders vorgestellt.

In den letzten 30 Jahren haben vor allem die staatlich organisierten Demonstrationen anlässlich der Besetzung des "Spionage-Nestes der USA" am 13. Aban des iranischen Jahres dazu beigetragen, die Macht der Ayatollahs zu festigen, deren Herrschaft eine gewisse Legitimation zu verleihen und nicht zuletzt von den unzähligen internen Problemen abzulenken.

In diesem Jahr wurden die Mullahs jedoch mit ihren eigenen Waffen bekämpft – und zwar nicht zum ersten Mal. Den Anhängern der so genannten "grünen Bewegung", wie die Protestbewegung gegen den umstrittenen Wahlsieg von Präsident Ahmadinedschad auch genannt wird, war es bereits gelungen, zwei symbolträchtige Veranstaltungen der Ayatollahs in ihrem Sinne zu nutzen:

Am 17. Juli 2009, als Ayatollah Hashemi Rafsandschani zum ersten und auch zum letzten Mal nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen vom religiösen Führer die Erlaubnis erhielt, das Freitaggebet in Teheran zu leiten, waren Hunderttausende Demonstranten wieder auf der Straße, um gegen Mahmoud Ahmadinedschad und den Wahlbetrug zu protestieren.

Der "Jerusalem-Tag" als Tag des Protests

Demonstration gegen Ahmadinedschad in Teheran; Foto: AP
Widerstand ungebrochen: Die Reformpolitiker Mussawi und Karrubi hatten ihre Anhänger am 30. Jahrestag der Besetzung der US-Botschaft zu einer Demonstration gegen die Führung unter Ahmadinedschad aufgerufen.

​​Und am 18. September bot ausgerechnet der einst von Ayatollah Khomeini ausgerufene "Jerusalem-Tag" der "grünen Bewegung" eine gute Gelegenheit, ihren Protest auf die Straße zu verlagern.

Ungeachtet des Verbots regierungsfeindlicher Demonstrationen - und allen Drohungen von Revolutionsgardisten und Sicherheitskräften zum Trotz -, nutzten an diesem Tag Tausende Regierungsgegner die traditionellen Kundgebungen zu Protesten gegen das umstrittene Präsidentschaftswahlergebnis.

Während bei den staatlich organisierten Demonstrationen am "Jerusalem-Tag" oft Parolen gegen Israel und die USA zu hören waren, riefen die Anhänger der Präsidentschaftskandidaten Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karrubi unter anderem: "Weder Gaza noch Libanon – unser Leben ist für den Iran!" und "Tod dem Diktator!"

Und auch kurze Zeit darauf, am Jahrestag der Besetzung der US-Botschaft in Teheran, mussten die Ayatollahs erneut zittern. Dabei hatten sie im Vorfeld viele Maßnahmen getroffen und zahlreiche Sicherheitskräfte und Milizen im Zentrum Teherans stationiert.

Trotz aller Drohungen der iranischen Machthaber und der berüchtigten Revolutionsgardisten waren am 4. November noch einmal Tausende Demonstranten in vielen iranischen Städten auf die Straßen gegangen.

In den letzten 30 Jahren bot der Jahrestag der Besetzung der US-Botschaft in Teheran dem Regime stets eine willkommene Gelegenheit, staatlich organisierte Demonstrationen gegen den "großen Satan" USA zu initiieren.

"Tod dem Revolutionsführer!"

Doch am 4. November erlebte der religiöse Führer Ayatollah Khamenei, wie sich die Wut der eigenen Bevölkerung gegen ihn selbst richtete: Plakate mit seinem Konterfei wurden in Teheran von Demonstranten zerrissen. In der Vergangenheit waren es immer die Flaggen der USA bzw. Israels gewesen, die bei den staatlich organisierten Demonstrationen verbrannt oder mit Füßen getreten wurden.

Ayatollah Ali Khamenei; Foto: AP
"Tod dem Revolutionsführer!" – erstmals rückt Ayatollah Ali Khamenei, oberster geistlicher Führer der Islamischen Republik, bei Irans Oppositionellen in den Mittelpunkt der Kritik.

​​Erstmals nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen skandierten die Demonstranten lautstark: "Tod dem Revolutionsführer Ali Khamenei!" – dabei war das geistliche Oberhaupt bisher von der öffentlichen Kritik der Regierungsgegner weitgehend verschont geblieben.

Die Regierungsgegner im Iran haben eine sehr wichtige Grenze überschritten. Und die Ayatollahs, die selbst die Islamische Revolution im Jahr 1979 gegen den Schah miterlebt haben, wissen sehr wohl, was es für ihre Macht bedeuten kann, wenn Demonstranten inzwischen keine Angst mehr haben, gegen den mächtigsten Mann der Islamischen Republik zu protestieren.

Die Tatsache, dass die Parolen der iranischen Demonstranten inzwischen nicht mehr nur gegen den Wahlbetrug gerichtet sind, weist zweifelsohne auf eine neue Qualität der Protestbewegung hin. Die fünf Monate lang anhaltenden, brutalen Repressionen haben sie keineswegs schwächen können - vielmehr hat die Angst der Demonstranten vor den Sicherheitskräften immer weiter abgenommen.

Die grüne Protestbewegung scheint daher nicht mehr zu stoppen zu sein. Ganz im Sinne von Präsidentschaftskandidat Mussawi, der seine Anhänger aufgefordert hatte, "mit dem Protest zu leben", hat sie sich mittlerweile landesweit etablieren und festigen können.

Wichtiger Etappensieg

Die Anhänger der reformorientierten Präsidentschaftskandidaten Mussawi und Karrubi suchen nämlich nicht mehr nach ihren "gestohlenen" Stimmen. Man fordert inzwischen eine säkulare "Iranische Republik", welche die im Jahr 1979 gegründete Islamische Republik Ayatollah Khomeinis ablösen soll.

Der renommierte iranische Journalist Masud Behnoud schreibt, dass am Tag der Botschaftsbesetzung am 4. November 2009 im Iran "etwas zerbrochen wurde": Während es vor sechs Jahren noch ein Tabu gewesen sei, selbst einen kritischen Brief an den religiösen Führer zu schreiben, haben die Demonstranten den mächtigsten Mann des Regimes öffentlich als Mörder bezeichnet und seine Legitimität in Zweifel gezogen, schreibt Behnoud in der Online-Zeitschrift Rouz weiter.

Irans oppositioneller Reformpolitiker Mir Hossein Mussawi; Foto: AP
"Mit dem Protest leben" - Irans oppositioneller Reformpolitiker Mir Hossein Mussawi

​​In den zahlreichen Online-Portalen der grünen Protestbewegung wird daher der 13. Aban als wichtiger Etappensieg gefeiert – als Tag, an dem der religiöse Führer einen großen Teil seiner Autorität verloren habe, so die Reformanhänger.

Dabei haben Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karrubi immer wieder betont, dass sich nur im Rahmen der gegenwärtigen Verfassung der Islamischen Republik Reformen durchsetzen lassen. Ihnen zufolge sei die Regierung unter Präsident Ahmadinedschad jedoch von der Linie Imam Khomeinis und der Verfassung klar abgewichen.

Inzwischen scheinen Mussawi und Karrubi, die beide betonen, die Grundlagen der Islamischen Republik nicht in Frage stellen zu wollen, nicht mehr die volle Unterstützung der reformorientierten Bevölkerungsteile zu genießen. Da nun die Regierung ohnehin nicht dazu bereit ist, Reformen im Rahmen der Verfassung der Islamischen Republik zu akzeptieren, radikalisiert sich die Protestbewegung weiter.

Viele Aktivisten der grünen Protestbewegung fordern bereits öffentlich einen "regime change" – sie halten nichts mehr von Reformen wie sie Mussawi und Karrubi favorisieren.

Religiöse Anlässe für Protestaktionen

Die unzähligen nationalen und religiösen Anlässe, die bisher zu den traditionellen Machtinstrumenten der Mullahs gezählt wurden, bieten den Demonstranten genügend Gelegenheiten für Proteste.

Bereits einen Tag nach der Demonstration vom 4. November begann man auf Informationsportalen der grünen Bewegung - wie zum Beispiel auf balatarin.com - bereits wieder mit den Vorbereitungen für die nächste Protestaktion.

Am 7. Dezember wird eine weitere Demonstration erwartet, dieses Mal anlässlich des Studententages. Danach folgen die mit großer Spannung erwarteten, zehntägigen Trauerfeierlichkeiten anlässlich des islamischen Monats Moharam, die in diesem Jahr am 18. Dezember beginnen.

Anhänger der grünen Reformbewegung im Iran; Foto: AP
Radikalisierung und Fraktionierung: Viele Aktivisten der grünen Protestbewegung fordern inzwischen einen "regime change"</i>. Die Reformziele von Mussawi und Karrubi gehen ihnen nicht weit genug.

​​Die Idee der grünen Protestbewegung, nationale und religiöse Anlässe in ihrem Sinne zu nutzen, kam erstmals von Mussawi, als er unmittelbar nach den Präsidentschaftswahlen seine Anhänger aufgefordert hatte, nachts von den Dächern "Gott ist groß!" zu rufen.

So werden im Laufe der Zeit alle traditionellen Machtinstrumente der Islamischen Republik von den Regierungsgegnern erfolgreich aufgegriffen, wobei absehbar ist, dass am Ende dieser Auseinandersetzung in der Islamischen Republik wohl nichts mehr so sein dürfte, wie es einmal war.

Die politischen Ereignisse im Iran erfahren heute eine neue Dynamik. Eine landesweite Massendemonstration kann über Nacht schon eine politische Wende einläuten. Je länger sich daher das Regime – allen voran Ayatollah Khamenei – weigert, den Willen der Bevölkerung zu respektieren, desto eher schwindet die Möglichkeit, das politische System als Ganzes noch retten zu können.

Selbst eine noch so brutale Niederschlagung der Protestbewegung – wie nach den diesjährigen Präsidentschaftswahlen – könnte diesen Prozess letztlich nicht mehr stoppen.

Auch müssen die Ayatollahs gegenwärtig an zwei politischen Fronten kämpfen: Der Streit um das iranische Atomprogramm spitzt sich weiter zu, und die Regierung unter Ahmadinedschad kann in dieser Frage nicht rückhaltlos mit der Unterstützung der Bevölkerung rechnen.

"Das grüne und freie Iran braucht keine Atombombe!"

So lautete nämlich eine Parole der Demonstranten am 4. November in Teheran: "Das grüne und freie Iran braucht keine Atombombe!"

Das heißt, dass inzwischen auch viele Iraner davon überzeugt sind, dass die Revolutionsgardisten, die eigentlich herrschende Macht im Iran, derzeit alles daran setzen, so schnell wie möglich die Bombe herzustellen.

Die wiederholte Versicherung der iranischen Machthaber, dass sie die Atomenergie nur friedlich nutzen wollten, wird von Anhänger der grünen Bewegung als "eine weitere Lüge" bezeichnet. Eine Regierung, welche die eigene Bevölkerung belogen hat, kann auch die ganz Welt belügen, so ihr Fazit.

Die iranische Zivilbevölkerung hat der Welt im Verlauf der Proteste in den vergangenen Monaten das wahre Gesicht der Islamischen Republik deutlich vor Augen geführt. Nun ist an der Weltgemeinschaft, die politischen Schritte des Regimes in Teheran genau zu überprüfen, um – unter anderem im Atomstreit – keine weiteren bösen Überraschungen zu erleben.

Die Botschaft der reformorientierten, grünen Protestbewegung in dieser Frage ist jedenfalls unmissverständlich: In Anspielung auf die jüngsten Verhandlungen zwischen dem Iran und den USA über das iranische Atomprogramm forderten reformorientierte Demonstranten in Teheran den amerikanischen Präsidenten jüngst dazu auf, endlich eine Entscheidung zu treffen: "Obama, Obama – entweder stehst Du auf deren Seite oder auf unserer!"

Ghasem Toulany

© Qantara.de 2009

Ghasem Toulany ist iranischer Journalist und Dozent der Iranistik an den Universitäten Göttingen und Bonn.

Qantara.de

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