Jede Opposition zählt als Israel-Unterstützung
Seit dem 7. Oktober 2023 nehmen mit dem Beginn des Krieges in Israel und Gaza und seiner Ausweitung auf den Libanon die Spannungen zwischen Iran und Israel täglich zu. Iran hat Israel mindestens zweimal mit Raketen- und Drohnenangriffen attackiert.
Der Tod von Ismail Haniyeh, dem Vorsitzenden des Politbüros der Hamas, in Teheran wird ebenso wie die Explosionen in iranischen Militäreinrichtungen Israel zugeschrieben. Gleichzeitig tötete Israel Hassan Nasrallah, den Führer der Hisbollah und wichtigsten politischen und militärischen Verbündeten Irans in der Region, mit einem Raketenangriff im Libanon, was die Spannungen weiter anheizte.
Die Feindschaft zwischen der Islamischen Republik und Israel ist zwar keine neue Entwicklung – seit 1979 zählt die Zerstörung Israels zu den politischen und sicherheitspolitischen Doktrinen Irans –, doch ein offener und direkter militärischer Konflikt, wie er sich in den vergangenen zwölf Monaten erstmals zeigt, ist beispiellos.
Während die Weltöffentlichkeit vor allem die geopolitischen und außenpolitischen Dimensionen eines möglichen Krieges analysiert, bleibt die fragile und unterdrückte iranische Zivilgesellschaft weitgehend unbeachtet. Diese Gesellschaft hatte während der „Frau, Leben, Freiheit“-Proteste 2022 ihre Stärke eindrucksvoll demonstriert – und wurde in der Folge massiv unterdrückt.
In den vergangenen Monaten hat das iranische Regime die Repression im Inneren parallel zu den zunehmenden militärischen und politischen Spannungen mit Israel deutlich verschärft. Menschenrechtsorganisationen berichten von einer Zunahme von Hinrichtungen und einer steigenden Zahl politisch motivierter Todesurteile.
Aus dem Krankenhaus auf die Barrikaden
Im Iran streiken die Pflegekräfte, um gegen miserable Lebensstandards und belastende Arbeitsbedingungen zu protestieren. Die Verzweiflung treibt viele ins Ausland – manche sogar in den Suizid.
Krieg als Vorwand für Repression
Nader Talebi, Soziologe am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität, erklärt: „Eine Kriegsrhetorik ist für einen autoritären Staat wie Iran ideal, um Repressionen zu rechtfertigen. Der Staat verbindet die Außen- und Innenpolitik und stellt dabei Kritiker*innen als ‚Feinde von außen‘ dar. So werden Oppositionelle oft als ‚Soldaten Israels‘ diskreditiert und verfolgt.“
Diese Einschätzung teilt Neda*, eine politische Aktivistin aus Teheran, die während der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung inhaftiert war. Sie berichtet gegenüber dem Iran Journal: „Die Urteile gegen politische Aktivist*innen, Frauenrechtler*innen und Journalist*innen sind in den letzten Monaten ungewöhnlich hart ausgefallen. Bei Verhören wird oft auf den Konflikt mit Israel Bezug genommen, und es heißt, jede Opposition gegen das Regime sei eine Unterstützung Israels.“
Der Berliner Soziologe Talebi sieht einen fundamentalen Gegensatz zwischen der zentralen Botschaft der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung und der gegenwärtigen Kriegssituation Irans: „Das Zentrum dieser Bewegung war das Konzept des Lebens. Angesichts der Tatsache, dass die Islamische Republik vom Tod und der ‚Ideologie des Jenseits‘ geprägt ist, bedeutet die Fokussierung auf das Leben einen Bruch mit dem Regime. Doch im Schatten eines möglichen Krieges wird die Vision eines friedlichen Zusammenlebens immer unwahrscheinlicher.“
Die Kriegsspannungen zerstören laut Talebi nicht nur die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, sondern verdrängen auch die Dynamik und den Mut der Menschen, die während der Proteste 2022 die Straßen füllten, um für Wandel zu kämpfen.
Wichtiger für Iran als die eigenen Wahlen
Donald Trump hat die Präsidentschaftswahl in den USA gewonnen. Viele iranische Oppositionelle erhoffen sich dadurch einen schnellen Sturz des islamischen Regimes. Doch Trumps Handeln, besonders in der Außenpolitik, war nicht immer vorhersehbar.
„Frau, Leben, Freiheit“ verliert international an Aufmerksamkeit
Auch international hat sich der Fokus verschoben. Westliche Staaten richten ihre Bemühungen darauf, eine weitere Eskalation zwischen Iran und Israel zu verhindern, da ein Krieg auch für den Westen ernsthafte Konsequenzen hätte. Die Menschenrechtssituation im Iran gerät dabei zunehmend in den Hintergrund. Talebi kommentiert: „Das iranische Regime nutzt die Außenpolitik, um den Druck auf sich zu verringern. Statt Menschenrechtsverletzungen zu adressieren, konzentriert sich die internationale Gemeinschaft darauf, militärische Angriffe zu verhindern.“
Die politischen Kräfte, die während der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung für einen Wandel von innen kämpften, verlieren zunehmend an Einfluss. Talebi warnt: „Die Gefahr eines Krieges zerstört das revolutionäre Momentum und ersetzt den Glauben an Veränderung von innen durch die Machtspiele internationaler Akteure wie Trump, Netanjahu und Macron.“
Die iranische Zivilgesellschaft, die in der „Frau, Leben, Freiheit“-Bewegung eine kurze Phase von Empowerment und Hoffnung erlebt hatte, sieht sich nun einer düsteren Realität gegenüber: Der Schatten eines drohenden Krieges könnte das Vertrauen in einen Wandel von innen endgültig untergraben.
*Name aus Sicherheitsgründen geändert
© Iran Journal