Stehen Iraks schiitische Kräfte vor dem Sieg?
Seit Jahrzehnten widersteht das irakische Personenstandsgesetz den Versuchen von schiitisch-islamistischen Gruppen, es zu reformieren oder gar abzuschaffen. Doch diese Gruppen sind weiter entschlossen, ihren Traum endlich zu verwirklichen. Das aktuelle Verfahren zur Änderung des Gesetzes ist bereits weit fortgeschritten: Ein Gesetzentwurf wird wahrscheinlich noch in diesem Jahr das Parlament passieren, die zweite Lesung fand bereits am 16. September statt.
Die vorgeschlagenen Änderungen würden den sunnitischen und schiitischen Awqaf-Räten (religiöse Stiftungen) im Irak das Recht geben, innerhalb von sechs Monaten nach Verabschiedung des Gesetzes neue Scharia-Personenstandsgesetze auszuarbeiten. Diese würden wahrscheinlich das derzeitige gesetzliche Heiratsalter von 18 Jahren aufheben und damit den Weg für Kinderehen ebnen sowie Frauen und Mädchen ihre Rechte in Bezug auf Scheidung und Erbschaft entziehen.
Dies ist nicht der erste Versuch schiitisch-islamistischer Kräfte, das Personenstandsgesetz (Nr. 188) zu ändern. Seit seiner Einführung im Jahr 1959 wird das Gesetz von den höchsten schiitischen Behörden als unislamisch abgelehnt.
In einer Studie aus dem Jahr 2022 schrieb die Professorin an der Fakultät für Erziehungswissenschaften der irakischen Muthanna-Universität, Dr. Maha Mezher Kani al-Murshidi, die schiitischen Geistlichen seien der Ansicht, dass das Gesetz „dem Richter die Autorität eines Scharia-Rechtsgelehrten verleiht und Ijtihad bei Rechtsentscheidungen behindert“.
Mit anderen Worten: Das Gesetz hindert die Geistlichen daran, in Fragen des Personenstandes eine Rolle zu spielen.
Gescheiterte Reformversuche
Nach dem Sturz des Saddam-Regimes 2003 schlugen schiitische Kräfte vor, das Gesetz in seiner Gesamtheit abzuschaffen und durch die Scharia zu ersetzen. Abdul Aziz al-Hakim, der damalige Vorsitzende des Obersten Islamischen Rates des Irak, legte im Dezember 2003 einen Vorschlag zur Aufhebung des Gesetzes vor, der jedoch aufgrund von Protesten von Feminist*innen und linksgerichteten politischen Parteien nicht umgesetzt wurde.
Den schiitischen Kräften gelang es 2005 zunächst, den Artikel 41 in die irakische Verfassung aufzunehmen, in dem es heißt: „Die Irakerinnen und Iraker sind frei, ihren Personenstand entsprechend ihrer Religion, ihrer Sekte, ihres Glaubens oder ihrer Wahl zu bestimmen, dies wird gesetzlich garantiert.“ Aufgrund von Einwänden aus der Zivilgesellschaft wurde der umstrittene Artikel jedoch wieder ausgesetzt.
2014 versuchten sie es erneut. Hassan al-Shammari, der damalige Justizminister und Führer der schiitischen Tugendpartei, arbeitete ein neues Personenstandsgesetz für die schiitische Gemeinschaft aus, das sogenannte Jaafari-Gesetz. Dieser Vorschlag wurde, wie seine Vorgänger, abgelehnt.
Für schiitische Politiker*innen im Irak, die zwischen den Parteien des „Coordination Framework” (der regierenden schiitischen Koalition) und der Sadr-Bewegung gespalten sind, ist der Personenstand nach wie vor ein politischer Kampfplatz. Die beiden Gruppen konkurrieren um die symbolträchtige Einführung von Gesetzen, die mit der schiitischen Doktrin in Einklang stehen.
Trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten haben die schiitischen Parteien in diesem Jahr allerdings bei der Verabschiedung mehrerer Gesetze zusammengearbeitet, wenn es ihre jeweilige Agenda voranbrachte. Im April brachte der Abgeordnete der schiitischen Tugendpartei, Riyad al-Maliki, ein neues Gesetz zur Kriminalisierung von Homosexualität ein. Das irakische Parlament billigte im Mai darüber hinaus einen weiteren Vorschlag von Parlamentarier*innen, die der Sadr-Bewegung nahestehen: Eid al-Ghadir, ein religiöser Feiertag, der nur von der schiitischen Gemeinschaft gefeiert wird, wurde im Irak zum offiziellen Feiertag.
Die Verabschiedung dieser Gesetze gab den schiitischen Parteien wieder Zuversicht, das Personenstandsgesetz ins Visier zu nehmen, das sie seit zwei Jahrzehnten erfolglos zu ändern versuchen. Es kam für die Opposition überraschend, als das neue Gesetz im Sommer auf der Tagesordnung des Repräsentantenhauses stand.
Der Gesetzentwurf löste einen Sturm der Entrüstung in sozialen Medien und Proteste von feministischen Organisationen, weiblichen Abgeordneten und säkularen Parteien aus. Die Gesetzgeber erklärten jedoch, die Änderung stehe im Einklang mit der Verfassung, insbesondere mit Artikel 2, der besagt, dass kein Gesetz erlassen werden darf, das im Widerspruch zu den Grundlagen des Islam steht, sowie mit dem bereits erwähnten Artikel 41.
Was ist über die Reformpläne bekannt?
Der aktuelle Gesetzesentwurf weicht beträchtlich von dem 2014 eingereichten Jaarafi-Entwurf ab, da er keine Liste von spezifischen neuen Regeln enthält. Stattdessen gibt er den Awqaf-Räten freie Hand, ihre eigenen neuen Scharia-Regelungen zu entwickeln.
In anderen Worten: Die schiitischen Abgeordneten möchten, dass das Parlament einen Blankoscheck ausstellt. Es soll für ein Gesetz stimmen, das noch nicht geschrieben wurde und dessen zukünftigen Inhalt niemand kennt. Niemand weiß genau, was dann anstatt des Personenstandgesetzes in Kraft tritt, doch wahrscheinlich wird es dem Jaafari-Entwurf von 2014 entsprechen, der von der schiitischen Jaafari-Denkschule inspiriert war.
Nach aktueller Rechtslage erreichen Frauen mit 18 Jahren das heiratsfähige Alter, nach dem neuen Gesetz wird das Alter wahrscheinlich auf 15 abgesenkt, was heute nur unter bestimmten Bedingungen möglich ist. Fürsprecher*innen des neuen Gesetzes wollen das heiratsfähige Alter sogar noch weiter absenken.
Anders formuliert könnten die Gesetzesänderungen die Ehe mit Minderjährigen und damit Pädophilie gegenüber Mädchen legalisieren. Nach der schiitischen Doktrin beginnt das Alter der Reife und des Erwachsenenlebens mit der sexuellen Pubertät, bei manchen also bereits mit neun Jahren. Ehen können nach dieser Doktrin auch schon früher geschlossen werden, jedoch ohne sexuellen Kontakt.
Weiter sieht das aktuelle Gesetz vor, dass Eheverträge bei staatlichen Gerichten offiziell registriert werden. Jede andere Ehe wird als Straftat betrachtet und mit Geldstrafen geahndet. Das neue Gesetz könnte es den Klerikern oder schiitischen, religiösen Gerichten ermöglichen, Ehen zu schließen, und diese erst im Nachhinein bei den staatlichen Gerichten zur registrieren. Das hätte zur Folge, dass der Ehemann entscheidet, ob eine Ehe registriert wird. Verhindert er es, hätte die Ehefrau im Zweifelsfall keine Möglichkeit zu beweisen, dass die Ehe tatsächlich geschlossen worden ist.
Nach heutiger Rechtslage sind Ehen in der Regel monogam. Es gibt jedoch Ausnahmen, in denen eine zweite Heirat akzeptiert wird, vorausgesetzt die erste Ehefrau akzeptiert dies. Das neue Gesetz könnte Polygamie einfacher machen. Die Fürsprecher*innen sehen in Polygamie eine religiöse Angelegenheit, die keinen Einschränkungen unterworfen werden sollte. In der Konsequenz könnte das neue Gesetz die Legalisierung von temporären Ehen, sogenannten Musayyar oder Muta'a, bedeuten. Feministische Organisationen halten diese für eine Form des Menschenhandels mit weiblichen Körpern.
Geschiedene Frauen könnten zudem bestimmte Rechte verlieren, beispielsweise das Recht, nach der Scheidung noch drei Jahre in der gemeinsamen Wohnung zu bleiben, ebenso wie den Anspruch auf Sorgerecht für Kinder. Nach der Gesetzesänderung könnten Frauen nach einer Scheidung nur den Betrag ihrer Mitgift erhalten, die im Ehevertrag festgehalten ist.
Während das aktuelle Gesetz Frauen im Erbrecht den Männern gleichstellt, könnte das neue Gesetz verhindern, dass Frauen Grundstücke erben, wenn ihre Ehemänner sterben. Eine weitere wahrscheinliche Änderung ist, dass Frauen im Falle des Todes ihres Partners nur die Hälfte von dem erben, was Männern zusteht.
Widerspruch aus der Gesellschaft
Unmittelbar nach Bekanntgabe der ersten Lesung bildeten sich in sozialen Medien Gruppen, die Frauen und Männer aus dem gesamten Irak und darüber hinaus zusammenbrachten und die die Änderung ablehnten. Im Parlament formten weibliche Abgeordnete zum ersten Mal einen feministischen Block, um die Verabschiedung des Gesetzes zu verhindern.
Diese Gruppe von Parlamentarierinnen wurde Teil der 188 Coalition (benannt nach der Nummer des diskutierten Gesetzes), gemeinsam mit dutzenden Frauenorganisationen, säkularen politischen Kräften, zivilgesellschaftlichen Gruppen, aktuellen und ehemaligen Abgeordneten, Anwält*innen, Wissenschaftler*innen und Medienschaffenden. Mit dem Slogan „Nein zur Gesetzesänderung!” verteidigt die Koalition das aktuelle Gesetz. Sie hat Demonstrationen in verschiedenen Teilen des Irak für die Ablehnung der Reform organisiert.
Auch Berufsverbände bringen ihre Ablehnung zum Ausdruck. So lehnten es manche Friseure und Juweliere ab, minderjährige Bräute zu bedienen. Es sind auch viele Cartoons aufgetaucht, in denen das Gesetz thematisiert wird. Selbst politische Satiresendungen nahmen das Thema auf, die Bashir Show veröffentlichte eine Episode über das Gesetz und bekam dafür an nur einem Tag eine Million Klicks.
Iyad Alawi, prominenter irakischer Politiker und Anführer der Wataniya-Koalition, die aus zivilen politischen Kräften und liberalen Politiker*innen besteht, warnte vor der Umsetzung des Gesetzes. Er nannte den Entwurf eine Katastrophe, die gestoppt werden müsse. Auch sunnitische Parteien haben ihre Unterstützung für das bestehende Gesetz betont und erklärt, dass sie im Falle der Annahme des neuen Gesetzes keine neuen sunnitischen Personenstandsregelungen erlassen würden.
Die Befürworter des Gesetzes aus religiösen und Stammeskreisen reagierten jedoch mit Gewalt. Im Bezirk Nadschaf, dem religiösen Zentrum des schiitischen Irak, wurde eine Gruppe von Demonstrierenden angegriffen, die Schilder mit den Aufschriften „Nein zur Gesetzesänderung“ und „Nein zur Muta'a-Ehe“ trugen. Die Angriffe lösten in sozialen Medien Empörung aus.
Feministinnen und Anwältinnen sind einer Kampagne von Diffamierungen, Verleumdungen und Strafmaßnahmen ausgesetzt, sogar durch ihre eigenen Gewerkschaften. Der Rechtsanwalt Mohammed Jumaa wurde vor den Disziplinarrat seiner Gewerkschaft zitiert, nachdem er erklärt hatte, dass die vorgeschlagenen Änderungen „die irakischen Frauen in die Zeit der Jawari (Sexsklavinnen) zurückversetzen würden“. Bestraft wurde er, nachdem er sich mit den schiitischen Islamisten angelegt hatte. Auch seine Kollegin, die Rechtsanwältin Zainab Jawad wurde heftig angegriffen.
Dagegen verteidigte im Parlament die Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Frauen und Kinder, Dunya al-Shammari, den Reformvorschlag und erklärte, er sei missverstanden worden. Er diene der persönlichen Entscheidungsfreiheit. Auch der Oberste Justizrat äußerte Verständnis und Sympathie für die Reform und erklärte, sie stehe nicht im Widerspruch zu den Grundsätzen der Verfassung.
Die breite gesellschaftliche Ablehnung des Gesetzes zwang sogar Premierminister Mohammed Shia al-Sudani zu einer Stellungnahme. Er versuchte, die Situation zu entschärfen, indem er erklärte, er werde „alle Kommentare zur Änderung des Personenstandsgesetzes im Obersten Rat für Frauenangelegenheiten diskutieren“.
Reform geht wahrscheinlich durch
Der Versuch der islamistischen Parteien, der Gesellschaft religiöse und sektiererische Gesetze aufzuzwingen, wird von irakischen Feministinnen und internationalen Organisationen als eine echte Bedrohung für die Rechte von Frauen und Kindern angesehen. Die Befürchtung ist, dass es die schiitischen Kräfte nicht bei der Änderung des Personenstandsgesetzes belassen, sondern auch versuchen werden, andere Gesetze nach ihren sektiererischen Vorstellungen umzuschreiben.
Amnesty International forderte, die vorgeschlagenen Änderungen fallen zu lassen. Die Organisation erklärte in einer Stellungnahme: „Die irakischen Gesetzgeber müssen die Warnungen von Zivilgesellschaft und Frauenrechtsgruppen vor den verheerenden Auswirkungen dieser Änderungen beherzigen.“
In einem Schreiben an die irakische Regierung äußerten auch UN-Expert*innen große Besorgnis. Sie warnten: „Wenn diese Änderungen verabschiedet werden, besteht die Gefahr, dass sie die grundlegenden Menschenrechte und den Schutz von Frauen und Kindern, einschließlich Mädchen, im Irak ernsthaft untergraben.“
Obwohl das Parlament noch keine endgültige Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf abgegeben hat, stehen die Chancen für eine Abstimmung gut, zumal der stellvertretende Parlamentspräsident Mohsen al-Mandalawi, der das Parlament bis zur Wahl eines neuen Parlamentspräsidenten leitet, sich auf die Seite der Befürworter des Gesetzes gestellt hat. Während er einem Antrag von 100 Abgeordneten auf eine erste Lesung am 4. August zustimmte, lehnte er einen Antrag von 124 Abgeordneten ab, die um eine Verschiebung der zweiten Lesung gebeten hatten.
Während feministische Gruppen und zivilgesellschaftliche Bewegungen immer noch für den Erhalt des Gesetzes 188 kämpfen, sieht es stark danach aus, dass die schiitischen Parteien kurz vor dem Sieg stehen.
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