"Türkische Jugendliche haben mehrere Identitäten"

Selçuk Şirin, Professor für angewandte Psychologie, kommt in einer in der Türkei erschienenen Studie über die Identität türkischer Jugendlicher zum Schluss, dass sich insbesondere junge Kurden gesellschaftlich am meisten diskriminiert und ausgegrenzt fühlen.

Jan Felix Engelhardt hat sich mit ihm unterhalten.

Selçuk Şirin; Foto: Kagan Koc
Selçuk Şirin: "Die jungen Menschen in der Türkei übernehmen das "Schwarz-Weiß"-Denken zwischen links und rechts, islamistisch und säkularistisch nicht. Sie haben mehrere Identitäten."

​​Herr Şirin, für Ihre Studie "Forschungen zu jugendlichen Identitäten" führten Sie Tiefeninterviews über politische Identitäten mit rund 1.400 Personen im Alter von 18 bis 25 Jahren. Welche Typen von Identitäten konnten Sie dabei ausmachen?

Selçuk Şirin: Wir versuchten, die Identität einer Person als soziales Konstrukt zu verstehen. Im Kontext der Türkei, in der wir es mit politischen Parteien und Gruppen zu tun haben, die ihre Identität sehr stark über die Abgrenzung zu anderen Identitäten definieren, ist es sehr schwierig, Menschen zu finden, die über mehrere Identitäten verfügen.

Deshalb war ich sehr erfreut festzustellen, dass die jungen Menschen in der Türkei dieses "Schwarz-Weiß"-Denken zwischen links und rechts, islamistisch und säkularistisch nicht übernehmen. Sie haben mehrere Identitäten. Sie kombinieren politische Identitätsmuster – wie die Identifikation mit einer Religion, den Grad an Identifizierung mit der türkischen Nation oder das Zugehörigkeitsgefühl zur säkularen Bewegung der Kemalisten.

In all diesen Bereichen maßen wir den Grad an Identifikation jedes einzelnen Teilnehmers an der Studie. Dies taten wir nicht durch "Entweder-Oder"-Fragen (wie zum Beispiel: "Besitzen Sie eine muslimische oder kemalistische Identität?"), weil es gerade diese Art der Fragestellung ist, die für die heutige Situation in der Türkei verantwortlich ist: "Sind Sie dies oder jenes?" In Wirklichkeit aber sagen die Leute eher "Ich mag Atatürk und fühle mich gleichzeitig als Muslim." Vor allem junge Leute sehen ihre Identität nicht im Zusammenhang von "entweder oder".

Studenten der Universität Istanbul; Foto: picture-alliance/KPA/Hackenberg
"Die Menschen sind in ihren politischen Anschauungen sehr viel komplizierter als die meisten von uns glauben." - Studenten der Universität Istanbul.

​​Welche politische Identität ließ sich als die wichtigste unter den von Ihnen befragten jungen Menschen herauskristallisieren?

Şirin: Etwa 60 Prozent der jungen Türken behaupten von sich, dass sie Kemalisten sind. Gleichzeitig aber geben auch 45 Prozent an, eine islamische Identität zu haben. Da sie mehrere Identitäten haben können, addieren sich diese Zahlen nicht zu 100 Prozent zusammen.

Dies gilt nur für das Wahlverhalten. Schaut man jedoch genauer, wer die post-kemalistische CHP wählt, stellt man fest, dass 14 Prozent der CHP-Wähler sich selbst als "islamisch" bezeichnen. Ähnliches gilt für die AKP, deren Wähler zu 38 Prozent angeben, sich als Kemalisten zu bezeichnen – und dennoch stimmen sie für die AKP.

Eines der Ergebnisse Ihrer Studie ist, dass sich die politische Identität der jungen Menschen nicht automatisch in ihrem Wahlverhalten niederschlägt.

Şirin: Es gibt da zumindest keinen direkten Zusammenhang im Sinne eines Automatismus. Die Menschen sind in ihren politischen Anschauungen sehr viel komplizierter als die meisten von uns glauben. Dies hat auch Implikationen für die Zukunft.

Junge Türkin mit Kopftuch und türkischer Nationalflahne; Foto: dpa
Das Ende des eindimensionalen Politikverständnisses: Die türkische Jugend begeistert sich für Politiker, die zeigen, dass ein "dritter Weg" möglich ist.

​​Welche Implikationen meinen Sie damit?

Şirin: Es wäre eine gute Sache für die Türkei, wenn der von mir beschriebene Trend weiter anhielte. Im Moment verliert die Türkei ein Menge an Energie, die einzig für die "Entweder-Oder"-Begriffe aufgewandt wird.

Wenn man nur den politischen Führern des Landes zuhören würde, müsste man glauben, dass ein regelrechter Bürgerkrieg um die politische Meinungshoheit im Gange wäre und dass es zwei unversöhnliche politische Lager gäbe. Die jungen Menschen aber zeigen uns, dass es möglich ist, sehr viel vorurteilsfreier zu sein.

Was bedeutet dies für die politischen Parteien in der Türkei?

Şirin: Die Studie zeigt, dass die türkische Jugend solche Parteien, die für dieses simple "Schwarz-Weiß"-Denken stehen, nicht länger unterstützt. Es gibt eine neue Generation von Menschen in der Türkei, die sich für Politiker begeistern, die zeigen, dass ein "dritter Weg" möglich ist.

Fühlt sich die türkische Jugend aufgrund ihrer religiösen oder politischen Anschauungen diskriminiert ?

Şirin: Der Faktor Diskriminierung nahm in der Untersuchung einen breiten Raum ein. Wir befragten die Jugendlichen über ihr Verhältnis zu Religion, zu Ethnizität und Politik. Die meisten jungen Menschen in der Türkei erfahren Diskriminierung nicht aufgrund ihres Geschlechts, ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit, sondern aufgrund ihrer politischen Meinung. Dieser Eindruck spiegelt eine politische Umgebung wider, die man schon fast als vergiftet bezeichnen muss und in der "der andere" nur mehr als Gegner wahrgenommen wird. Wenn junge Menschen ihre politischen Anschauungen in einer solchen politischen Umgebung kundtun, werden sie dafür bestraft.

Welche Gruppen fühlen sich denn am stärksten benachteiligt?

Anhänger der pro-kurdischen DTP demonstrieren in Ostanatolien; Foto: AP
Politisch unter Druck: Wenn es um Faktoren wie Stress geht, sind zumeist die Anhänger der kurdischen Nationalisten-Partei DTP davon betroffen.

​​ Şirin: Wir fragten Jugendliche, inwiefern sie sich diskriminiert fühlen und wie weit sie dies beeinträchtigt. Wenn es um Faktoren wie Stress geht, sind zumeist die Anhänger der kurdischen Nationalisten-Partei DTP davon betroffen. Hierauf folgen generell die Kurden, die ja nicht alle Anhänger der DTP sind. Von den religiösen Gruppe sind in erster Linie die Schafiiten betroffen, die wiederum meist kurdischer Abstammung sind. Und was den sozialen Druck als Stressauslöser angeht, so sind hiervon insbesondere junge Menschen aus ärmeren Familien betroffen.

Eigentlich würde man vermuten, dass es sich bei Faktoren wie Stress und Diskriminierung bei jungen Menschen armenischer Herkunft ganz ähnlich wie bei jungen Kurden verhalten müsste. Tatsächlich aber ergibt ihre Untersuchung hier ein anderes Bild.

Şirin: Ja, zu unserer Überraschung zeigte sich bei den Armeniern, dass sich ihre Wahrnehmung diesbezüglich nicht sehr von denen aller anderen Gruppen unterscheidet. Als ethnische Gruppe nehmen sie nicht mehr Diskriminierung wahr oder äußerten mehr den Wunsch, das Land zu verlassen als andere ethnische Gruppen. Die jungen Menschen armenischer Herkunft scheinen sich in der Türkei recht wohl zu fühlen, was ein überraschender Befund ist.

Wie viel Druck empfinden die Anhänger der Parteien AKP und CHP?

Şirin: Es gibt in der Türkei fast so etwas wie einen Wettbewerb unter den Anhängern beider Parteien hinsichtlich der Frage: 'Wer hat am meisten zu leiden aufgrund seiner politischen Anschauungen?'. Unsere Untersuchungen zeigten hierbei, dass der Unterschied zwischen der AKP und der CHP in diesem Bereich minimal ist. Und es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass dieser Wettbewerb doch völlig unsinnig ist, denn es gibt keinerlei Belege, die für eine stärkere Benachteiligung der einen oder anderen Seite sprechen würden.

Wie blickt die junge Generation in der Türkei in die Zukunft?

Şirin: Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass in diesem Punkt das Einkommen und die soziale Zugehörigkeit der Befragten eine entscheidende Rolle spielt - was nicht allzu überraschend ist, denn ein ähnlicher Zusammenhang lässt sich in allen Ländern feststellen. Doch schaut man sich den ethnischen Hintergrund der Befragten an, zeigt sich, dass Kurden in ihrer Erwartungshaltung sehr von Türken und Armeniern unterscheiden.

Aleviten in Istanbul; Foto AP
Grund zum Pessimismus: Wegen ihrer religiösen Besonderheiten wurden Aleviten bereits über Jahrhunderte hinweg als vermeintliche Ungläubige verketzert, gesellschaftlich ausgegrenzt und immer wieder verfolgt.

​​ Die Kurden in unserer Studie haben eine allgemein sehr pessimistische Sicht, was ihre Zukunft angeht. Dies gilt hinsichtlich der religiösen Gruppen im übrigen auch für die Aleviten.

Sie fragten die Teilnehmer, ob sie die Türkei verlassen würden, sollten sie dazu Gelegenheit bekommen. Wie fielen in diesem Punkt die Antworten aus?

Şirin: Generell lässt sich festzustellen, dass die meisten der jungen Menschen in der Türkei das Land nicht verlassen wollen. Anhänger der AKP, der "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) sowie aller anderen Parteien sagten, dass sie dem Land nicht den Rücken kehren würden, um woanders zu leben. Nur die Mehrheit der CHP- sowie der DTP-Anhänger bilden in dieser Hinsicht die Ausnahme.

Wie ist das zu erklären?

Şirin: Dieses Resultat ist deshalb interessant, weil es den anderen Ergebnissen zu widersprechen scheint. Es war nicht festzustellen, dass die Anhänger der CHP pessimistischer sind als andere. Auch nehmen sie nicht mehr Diskriminierung als alle anderen wahr.

Möglicherweise spielt hier der Druck aus der Nachbarschaft eine Rolle, das Gefühl, dass die politische Situation für CHP-Anhänger keinen Anlass zu Optimismus bietet. Die Bereitschaft zur Auswanderung, die bei jungen Kurden vorhanden ist, lässt sich dagegen leicht damit erklären, da sie auch sonst sehr pessimistisch eingestellt sind und gesellschaftliche Diskriminierung erfahren.

Interview: Jan Felix Engelhardt

© Qantara.de 2009

Selçuk Şirin ist Lehrbeauftragter für angewandte Psychologie an der New York University. Zum Zeitpunkt der Untersuchung, die in der Türkei durchgeführt und publiziert wurde, war er Gastforscher an der Bahçeşehir Universität in Istanbul.

Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Qantara.de

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