Türkische Esskultur und nationale Identität
Zafer Yenal, Dozent für Soziologie an der Bogazici-Universität in Istanbul, spricht über den Zusammenhang zwischen Nationalismus und Esskultur. Und er erklärt, warum die Bezeichnung "türkische Küche" relativ neu ist und erst seit den 80er Jahren vermehrt in den Medien auftaucht.
Über welches Nahrungsmittel oder Gericht wird in der Türkei am meisten diskutiert?
Zafer Yenal: Zuletzt sprach man über den Halloumi-Käse: Gehört er den zypriotischen Türken oder den zypriotischen Griechen? Oder gehört er vielleicht den Türken...? Solche Themen werden doch sehr grundsätzlich betrachtet.
Zuvor fand eine große Diskussion über den Ursprung der Süßspeise Baklava statt. Es wurde z.B. die Frage gestellt: "Hat Baklava eine nationale Identität?" Doch so etwas ist kompletter Unsinn! All diese Nahrungsmittel wurden jahrhundertelang von Ort zu Ort transportiert, verschiedene Völker bereiteten sie auf ihre eigene Art zu und speisten auf ihre eigene Art. Diese Gerichte wurden daher auf all diesen Wegen beeinflusst und haben sich verändert.
Was Baklava zur Baklava macht, ist nicht seine türkische, griechische oder arabische Identität. Heute wird Baklava infolge von historischen und gesellschaftlichen Einflüssen in Griechenland, im Libanon, in Syrien und Armenien gegessen – genau wie auch in der Türkei.
Der Wunsch, den Ursprung eines Nahrungsmittels auszumachen, liegt darin begründet, dass der Nationalismus in der modernen Welt eine große Bedeutung gewonnen hat.
Das spielt sich auf derselben Ebene ab, wie die Freude, die man empfindet, weil unsere Nationalmannschaft ein anderes Team besiegt hat, oder weil man die Menschen unseres Landes für ehrenvoller, aufrichtiger, fleißiger und erfolgreicher hält als andere. All das liegt im Nationalismus begründet.
Wie beeinflussen solche Diskussionen die Gesellschaft?
Yenal: Das ist ein sehr wichtiges Thema. In den Medien werden diese Themen nicht ganz ernst genommen. Die Berichte und Kommentare nähren den Nationalismus und lassen ihn im Alltag wirken. Das führt dazu, dass die Menschen bereitwillig in der Kategorie "Wir und die anderen" denken. Daher sind die Begriffe und die Sprache, die wir benutzen, um unsere Gedanken über Musik, Tanz, Essen etc. auszudrücken, sehr wichtig. Folglich haben diese Diskussionen ein großes Potenzial, gefährlich zu werden.
Normalerweise fangen Gespräche über solche Themen mit einem Scherz an. Niemand würde das als gefährlich betrachten. Wann wird die Grenze überschritten?
Yenal: Diese Grenzüberschreitungen begegneten uns bei der Ermordung von Hrant Dink oder bei den seit einigen Jahren immer mehr zunehmenden Fällen von Lynchjustiz in der Türkei. Wir beobachten die Grenzverletzungen bei der Benachteiligung der Kurden durch den Staat oder bei der Gewalt, die er gegen sie anwendet.
Das Gleiche gilt, wenn gegnerische Fußballfans in Istanbul bei internationalen Fußballspielen verprügelt oder getötet werden.
Um den Ernst dieser Frage zu erkennen, bedarf es nicht unbedingt solcher Ereignisse, denn eine Grenze ist etwas sehr Vages. Diese Grenzverletzungen kann man bei alltäglichen Dingen, denen wir nur wenig Beachtung schenken, genauso beobachten wie in politischen Situationen.
In Istanbul arbeiten in vielen Restaurants kurdische Köche. Es werden sicher auch Rezepte aus verschiedenen Regionen gekocht. Allerdings bezeichnet man alles, was in türkischen Restaurants zubereitet wird, als "türkische Küche". Gibt es hierüber in der Türkei ein Bewusstsein?
Yenal: Das ist eine wichtige Beobachtung, die Sie gemacht haben. Natürlich sind nicht alle, die in der Gastronomie arbeiten, Kurden. Aber es gibt eine Migrationsbewegung infolge der fast 30 Jahre andauernden Kriegssituation im Südosten der Türkei. Es gibt Köche und Gastronomen, die nicht unbedingt Kurden sind. Aber wenn wir mal die Logistik der Restaurants betrachten, dann sehen wir, dass nahezu alle Reinigungsarbeiten von türkischen Kurden erledigt werden.
Bis in die 60er und 70er Jahre wurden diese Arbeiten von Griechen und Armeniern verrichtet. Ganz früher waren nahezu alle Köche, die in Istanbuls berühmtesten Küchen kochten, Griechen oder Armenier. Das änderte sich nach den Ereignissen im Jahre 1955 (Pogrom von Istanbul im September an den Griechen; Anm.d.Red.), als der Nationalismus seine Fratze zu zeigen begann.
Dieser Zustand dauert bis heute an, obwohl noch sehr viele Nichtmuslime in der Türkei leben. Später vergaß man dieses Erbe. Seit den 60er Jahren entstand plötzlich der Mythos der so genannten "Bolu-Küche" (eine besonders für seine Küche bekannte nordwestliche Küstenregion der Türkei; Anm.d.Red.). Wenn man diese Entwicklung berücksichtigt, sieht man, dass der Terminus "türkische Küche" ein nachträglich konstruierter Begriff ist.
Trifft das nicht auf jede Küche zu?
Yenal: Ja, jede Küche ist so, wenn man auf zahlreiche Forschungsergebnisse blickt. Wenn Nahrungsmittel von einem Ort an einen anderen gelangen, verändern sie sich zwangsläufig. Das hängt damit zusammen, wer die Gerichte gekocht hat, sie erhalten auf diese Weise neue Geschmacksrichtungen und Aromen.
Aber spricht man in der Türkei über diese Dinge? Natürlich nicht! Man ist überzeugt, dass es eine "türkische Küche" und "türkische Gerichte" gibt. Alles wird über das "Türkischsein" definiert und alles wird als eine Angelegenheit betrachtet, die die nationale Identität stützt.
Welche Beobachtungen haben Sie in Deutschland gemacht?
Yenal: Schauen wir uns einmal an, welchen Stellenwert der Döner in Deutschland hat. Während der Döner hier immer populärer wurde, konnte man beobachten, dass er mit dem "Türkischsein" assoziiert wurde. Gleichzeitig kann man sagen, dass man heute nicht darauf achtet, was den Döner ausmacht, sondern wer ihn zubereitet.
Andererseits unterscheidet sich das, was man in Deutschland als Döner bezeichnet, gänzlich von dem in der Türkei. Viele würden bezweifeln, dass der Döner in Deutschland überhaupt ein Döner ist, denn dieses Gericht ist ganz und gar eingedeutscht – ein bizarrer Snack im Brot.
Wie verändern politische Entwicklungen die Esskultur?
Yenal: Betrachten wir die Kurden-Frage: Die meisten Menschen, die in den Straßen Istanbuls gefüllte Muscheln verkaufen, sind Kurden. Und die meisten Menschen, die diese zubereiten, sind Frauen aus der Stadt Mardin. Die meisten dieser Frauen werden wohl gefüllte Muscheln zum ersten Mal in ihrem Leben in Istanbul gesehen haben.
Früher wurden Muscheln vornehmlich von Armeniern und Griechen zubereitet, bis in die 50er Jahre waren die Straßenverkäufer Armenier oder Griechen.
Um die "Kurdisierung" der Muscheln zu verstehen, muss man die Geschichte der Türkei ab 1970/80 sehr gut kennen. Man muss wissen, warum die Kurden gezwungen waren, zu Hunderttausenden ihre Heimat zu verlassen und nach Istanbul, Adana, Van oder Batman zu kommen.
Zwischen all diesen politischen Prozessen und der Esskultur gibt es einen wichtigen Zusammenhang. Die Bezeichnung "türkische Küche" ist eine neue Entwicklung. Erst seit den 80er Jahren kann man sehen, dass diese Bezeichnung vermehrt ihn den Medien auftaucht.
Wie hängen Nationalismus und Esskultur zusammen?
Yenal: Essen hat für sich genommen keine besondere Bedeutung. Eine Bohne ist überall eine Bohne, Reis bleibt überall Reis.
Wie aber wird dem Essen eine tiefere Bedeutung beigemessen, wie sensibilisiert es die Menschen für ihre unterschiedliche Zugehörigkeit? Genau das ist der entscheidende Punkt, der Esskultur und Nationalismus zusammenbringt. Im Falle der Esskultur kann man sehr gut beobachten, wie sehr der Nationalismus der heutigen modernen Welt verhaftet ist und wie sehr es ein Konzept ist, das unser gesellschaftliches Leben einengt.
Nehmen wir z.B. ein armenisches Kochbuch aus dem Jahre 1915: Dort werden wir Gerichte finden, die wir als türkisch bezeichnen können und ebensolche, die armenisch sind. Gleichzeitig ist in diesem Kochbuch kein einziges Mal von einem "armenischen" oder "türkischen" Gericht die Rede. Dagegen schreibt der Autor: "Dieses Gericht stammt aus einer Region nahe der Stadt Merzifon."
Wir verstehen unter Nationalismus heute etwas ganz anderes, als das, was man noch vor 80 Jahren unter dieser Bezeichnung verstand. Dieses unterschiedliche Verständnis zeigt uns, wie sehr diese Themen konstruiert sind.
Wenn das etwas ist, was die Menschen oder die Gesellschaft konstruiert hat, dann zeigt uns das, wie sehr wir uns anstrengen müssen, dies zu ändern. Daher ist es sehr wichtig, diesen Zusammenhang zwischen Esskultur und Nationalismus zu sehen.
Interview: Fatma Sagir
© Qantara.de 2007
Dr. Zafer Yenal, Dozent für Soziologie an der Bogazici Universität in Istanbul, ist derzeit Stipendiat am "Wissenschaftskolleg Berlin" im Rahmen des Projekts "Europa im Nahen Osten – der Nahe Osten in Europa". Er studierte an der "Middle East Technical University" in Ankara und graduierte an der Binghamton University in New York. Zafer Yenal hat u.a. eine Monographie über Menschenrechte und Zivilgesellschaft in der Türkei sowie zahlreiche wissenschaftliche Artikel veröffentlicht.
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