Zwangsverheiratungen machen krank
Herr Cicek, was hat sie dazu bewogen, eine Buch über Zwangsverheiratung zu schreiben?
Halis Cicek: Seit Jahren biete ich Therapien für Landsleute an. Vielen konnte ich helfen, aber das reicht mir nicht. Es gibt viele Dinge, über die man diskutieren muss. Mit dem Buch möchte ich mehr Menschen über die Zwangsverheiratung informieren, denn es ist ein gesellschaftliches Tabuthema. Viele, die das Buch gelesen haben, sagen, dass sie begeistert sind und dass noch nie so ein Buch geschrieben wurde. Seit 1994 schreibe ich meine Therapieerfahrungen nieder. Das Buch handelt von Vergewaltigung und Inzest. Den Eltern muss bewusst gemacht werden, was sie tun. Sie haben nie gelernt, darüber zu sprechen. Auch sie wurden fast immer zwangsverheiratet. Zwar sagen sie, dass das nie wieder passieren soll, aber sie verheiraten ihre Kinder dann doch auf diese Weise.
Es leiden auch Männer darunter, aber es sind wohl weniger die Männer als die Frauen?
Cicek: Aus meinen Erfahrungen kann ich sagen, dass bestimmt neunzig Prozent der türkischen Patientinnen geschlagen wurden. Darunter sind auch Frauen aus Akademikerfamilien, die sich selbst als liberal und demokratisch bezeichnen. Dabei sind auch Männer, die sich als „Frauenrechtler“ bezeichnen und für Frauenrechte demonstrieren, aber ihren Frauen zu Hause Gewalt antun. Viele leben in wirtschaftlichen Schwierigkeiten oder haben Probleme mit dem Leben zwischen zwei Kulturen. Sie sind weder Türken noch Deutsche und sind daher angespannt. Und: Sie leben vielfach in total gestörten Partnerbeziehungen.
Und bei den Eltern herrscht Unverständnis?
Cicek: Viele Eltern glauben, dass sie ihren Kindern Gutes tun, wenn sie sie mit Verwandten verheiraten und sie so vor Fremden bewahren. Manchmal wollen sie auch Verwandten helfen, aus der Türkei herauszukommen. Eigentlich ist es ein Export-Import-Geschäft. Die Eltern sehen dann die Probleme, die sich auftun, sie sehen ihre unglücklichen Kinder. Auch Eltern kommen zu mir mit Depressionen. Manche werden selbst krank und leiden mit. Die Menschen, die aus der Türkei kommen, sind meist sehr emotional. Wenn einer krank ist, leidet der andere Teil der Familie mit.
Mit welchen konkreten Leiden kommen Patientinnen, die zwangsverheiratet worden sind, zu Ihnen?
Cicek: Viele Frauen sind depressiv. Sie haben keine Lust zu leben. Sie essen kaum, haben Angst vor der Zukunft, sind hoffnungslos. Es ist eine reaktive Depression. Sie haben Schlafstörungen, sie haben Angst vor Sexualität, können nichts genießen. Wenn ich frage, was die Ursachen dafür sind, stelle ich fest, dass diese Störungen seit der Heirat bestehen.
Äußert sich das auch in richtigen körperlichen Beschwerden?
Cicek: Ja, bei den meisten in Kopf- oder Magenschmerzen. Wenn der Magen bei Stress viel Magensäure produziert, kann es zu einer Gastritis und dann zu Geschwüren kommen. Viele können nicht schlafen und leiden oft auch an Gliederschmerzen.
Wie bekommen Sie dann heraus, dass es im Grunde die Zwangsheirat ist, die dahinter steckt? Sprechen die Patientinnen das aus?
Cicek: Wenn sie jemanden finden, zu dem sie Vertrauen haben, sind viele erstaunlich offen, besonders die Frauen. Frage ich nach ihren Ängsten, nach Sexualität und Depressionen, kommen sehr schnell die Eheprobleme zur Sprache. Die Frauen erzählen über die Heirat, über ihre erste Nacht, was da geschehen ist und dass sie ihre Männer vorher nicht gekannt haben. Nach und nach kommt die Gewalt zur Sprache, da alles gegen ihren Willen geschehen ist. Wenn Frauen zu mir kommen, müssen auch ihre Ehemänner vor der Diagnose einmal zu mir kommen. Ich kann dann feststellen, ob ich vielleicht beiden helfen kann.
Können Sie einen konkreten Fall von Zwangsverheiratung schildern?
Cicek: Ich kenne den Fall einer jungen Frau, die mit 13 oder 14 Jahren zwangsverheiratet wurde. Nach der Heirat hatte ihr Mann Geliebte, sie musste bei den Schwiegereltern leben und durfte nicht mehr alleine aus dem Haus gehen. Ihr Mann hatte Angst, dass sie jemand anderen kennen lernen würde. Er hatte Komplexe und war voller Minderwertigkeitsgefühle. Eines Tages ist sie einfach aus dem Haus gegangen. Die Schwiegereltern sind ihr gefolgt, der Schwiegervater hat sie mit dem Messer bedroht, die Schwiegermutter hat sie an den Haaren gezogen. Der Ehemann hat gedroht, dass er sie töten würde. Sie haben sie solange bedroht, bis sie eine Anzeige bei Gericht zurückgezogen hat. Sie wollte sich scheiden lassen, aber sogar ihre Familie aus der Türkei hat ihr gedroht, dass sie kommen und sie umbringen würden. Ihr Zustand war so schlimm, dass sie in die Klinik musste. Jetzt soll sie eine Frührente erhalten. Die Frau ist jetzt ungefähr dreißig Jahre alt.
Mit Therapie kann man im Kopf etwas bewirken. Aber was kann das für das Leben der Frauen konkret bedeuten?
Cicek: Ich versuche ihnen klar zu machen, dass sie als Frau versuchen müssen, unabhängig zu werden. D.h., sie müssen etwas lernen, eine Arbeitsmöglichkeit suchen oder, wenn sie können, einen Beruf lernen. Es gibt solche Wege, es gibt Institutionen, die dabei helfen.
Das heißt, Sie machen eigentlich auch so etwas wie Sozialarbeit?
Cicek: Ja, meine Arbeit ist vielseitig. In erster Linie biete ich kognitive Therapie und Bewusstseinstraining, aber auch Entspannungstraining an. Es ist sehr wichtig für die Frauen, dass sie ein anderes Bewusstsein entwickeln. Es ist sehr schlimm, wenn sie sich immer schwach fühlen und ihre Männer als stark ansehen. Sie müssen selbstsicher werden.
Wie oft kommt es vor, dass Frauen durch eine Therapie so gestärkt worden sind, dass sie tatsächlich ihr Leben in die Hand nehmen, eventuell sogar die Familie verlassen?
Cicek: Nach etwa 15 Stunden Therapie werden sich viele Frauen ihrer Situation stärker bewusst und können auch besser damit umgehen. Ich zeige ihnen dazu verschiedene Wege auf. Einige suchen Frauenberatungsstellen auf oder nehmen eine Arbeit gegen den Willen ihrer Männer an.
Haben Sie schon einmal erlebt, dass in einer Paartherapie zum Beispiel auch der Ehemann seine Werte und Wertvorstellungen geändert hat?
Cicek: Ja. Es gibt Männer, die sich wie Machos benehmen und zu Hause brutal sind. Wenn sie dann hier sind, sehen sie sich plötzlich wie in einem Spiegel. Es kann dann durchaus sein, dass sie ihr Verhalten ändern oder es zu mindestens versuchen. Meistens haben sie Angst, überhaupt zu einem Therapeuten zu gehen. Oft wollen sie es ihren Frauen auch verbieten. Aber es gibt Männer, die sich verändern.
Also finden manche Paare trotz Zwangsverheiratung einen Weg zueinander?
Cicek: Ja, das gibt es. Es gibt auch Paare, die sich nach der Therapie friedlich trennen, weil sie gemerkt haben, dass sie keine Gemeinsamkeiten haben und dass jeder seinen eigenen Weg suchen sollte.
Gibt es auch Männer, die ihre Frauen freigeben, weil sie merken, dass alles unter Zwang geschehen ist?
Cicek:Ja, manchmal gestehen sich die Männer auch ein, dass sie Fehler gemacht haben. Sie erkennen, dass sie selbst gezwungen wurden oder nicht in der Lage gewesen sind, sich gegen die Heirat zu wehren. Sie sind damit auch nicht zufrieden. Wenn ich als Therapeut, als neutrale Person, mit ihnen rede, dann sehen sie das oft.
Gibt es also Anlass zur Hoffnung?
Cicek:Ja. Aber im Allgemeinen können Männer immer noch mehr rebellieren als Frauen. Meist geht es den Frauen doch schlechter. Es ist oft doch sehr schwer für eine Frau, sich zu befreien.
Interview: Sigrid Dethloff
© Qantara.de 2004