Suizid als letzter Ausweg
Hochzeiten sind in Afghanistan einer der wenigen Anlässe, bei denen Familien und deren Angehörige für einen Abend ihre Sorgen vergessen und ein rauschendes Fest feiern - fernab von Krieg und Gewalt. Bis in die Morgenstunden wird getanzt und gefeiert. Nur eine darf nicht zu glücklich aussehen: Traditionellerweise muss die Braut ein trauriges Gesicht aufsetzen, weil sie ihre Familie verlässt.
Oft sind die Tränen aber nicht nur eine gespielte Maske, weiß Shafiqa Azarmehr, die die Zwangsheirat einer ihrer Freundinnen erlebt hat: "Sie hieß Nadia", erzählt Shafiqa. "Ihre Familie hat sie gezwungen zu heiraten, aber den Bräutigam wollte sie nicht und hat sich deshalb versucht umzubringen. Die Familie hat es rechtzeitig bemerkt und sie vom Selbstmord abgehalten." Nun sei Nadia schon lange unglücklich verheiratet, sagt sie traurig.
Nach Informationen der Afghanistan Independent Human Rights Commission sind zwischen 60 and 80 Prozent der Hochzeiten in Afghanistan Zwangsheiraten, in 15 Prozent der Fälle sind die Bräute nicht älter als 16 Jahre. Wenn der vermeintlich "schönste Tag im Leben" zur Horrorvorstellung wird, sehen viele Mädchen den Selbstmord als einzige Ausflucht.
Letzter Ausweg aus der Zwangsheirat
"Es ist der letzte Ausweg und der letzte Versuch des Widerstands, die Situation, in die die Frauen gepresst werden, nicht zu akzeptieren", sagt Monika Hauser besorgt.
Vor 20 Jahren hat Hauser die deutsche Frauenrechtsorganisation medica mondiale gegründet und ist mit der nun unabhängigen Organisation medica Afghanistan seit neun Jahren in Afghanistan tätig.
Die Frauenärztin konnte seitdem einen enormen Anstieg der Suizidrate bei Frauen beobachten. "Im Jahr 2009 hat das Institute for War and Peace Reporting gemeldet, dass die Zahl der Selbstverbrennungen von jungen Frauen allein in Herat um 50 Prozent gestiegen ist", erklärt Hauser.
Eine neuere afghanische Studie des ehemaligen stellvertretenden Gesundheitsministers besagt, dass sich von 100.000 Frauen fünf umbringen. "Wir sehen gerade auch in den Städten, dass die Suizidrate steigt, weil die Frauen gerade in Städten sich gegen Zwangsverheiratung wehren."
Frauen in den Städten sind meist gebildeter und haben leichteren Zugang zu Medien, die aufzeigen, dass es auch anders gehen kann. Monika Hauser vermutet, dass das der Grund ist, warum dort die Suizidrate am höchsten ist. In der westlichen Stadt Herat, nahe der Grenze zum Iran, ist das besonders zu beobachten. "Vor allem die Flüchtlinge aus dem Iran haben bereits relative Freiheit erfahren und sehen sich nun mit repressiven familiären Schemata konfrontiert", so Hauser.
Über 1,8 Millionen Frauen in Afghanistan leiden an Depressionen - das geht aus afghanischen Studien hervor. Gewalt gegen Frauen und extreme Einschränkungen in der Familie führten zu extremem psychischen Druck, sagt Dr. Mohammad Ashraf Rawan, Arzt und Facharzt-Trainer für Psychiatrie in der nördlichen Provinz Balkh.
Wird ein Mädchen in einem sehr jungen Alter verheiratet, ist es nicht in der Lage, den Anforderungen einer Ehefrau zu entsprechen. "Eine Zwangsheirat führt oft auch zu Eheproblemen oder Scheidung", sagt Rawan. "Mädchen, die ohne ihr Einverständnis verheiratet werden und auf die großer Druck ausgeübt wird, bekommen in der Regel psychische Beschwerden und Depressionen, manchmal führt das dann bis in den Suizid."
Tradition oder Gleichberechtigung?
Nach islamischem Recht müssen sowohl die Braut als auch der Bräutigam mit der Hochzeit einverstanden sein, damit diese gültig ist. In Afghanistan aber überwiegt die Tradition. Hier sind es die Eltern, die über die Zukunft ihrer Tochter entscheiden und darüber, wen sie heiraten oder nicht heiraten soll. Nur wenige Familien geben diese Entscheidung in die Hände ihrer Töchter.
Anders sieht es bei den männlichen Familienmitgliedern aus. Die meisten jungen Männer dürfen die Wahl ihrer Eltern ablehnen oder bestätigen. Viele Männer dürfen sich auch selbst eine Partnerin aussuchen.
Fauzia Nawabi von einer unabhängigen Menschenrechtskommission in Nord-Afghanistan berichtet der Deutschen Welle von empirischen Interviews mit Überlebenden von Suizidversuchen, die die Organisation im Jahr 2012 durchgeführt hat. "Ich habe mit vielen Mädchen gesprochen, die einen oder mehr Selbstmordversuche hinter sich hatten. Der wahre Grund für den Versuch war fast jedes Mal eine Zwangsheirat." Nawabi stellt immer wieder fest: "Die Einwilligung der Tochter zu einer Heirat wird nicht berücksichtigt."
Nawabi ist zuständig für vier nördliche Provinzen in Afghanistan. Im Jahr 2012 seien in diesen Provinzen etwa 36 Selbstmordversuche registriert worden, davon haben zehn Frauen überlebt. Nach Angaben Nawabis ist die Dunkelziffer der Suizidrate jedoch sehr viel höher. Die meisten Suizide bleiben unregistriert, weil die Taten von den betroffenen Familien geheimgehalten werden.
Psychosoziale Beratungen wichtiger denn je
Umso wichtiger sei es deshalb, den Mädchen und Frauen Beratungsmöglichkeiten anzubieten, so Monika Hauser. Die Organisation medica Afghanistan bietet Frauen nicht nur psychologische Hilfe an, sondern auch eine Rechtsberatung, um gegen Straflosigkeit anzugehen.
"Über Mund-zu-Mund-Propaganda sind die Beratungszentren im ganzen Land bekannt. In einem geschützten Bereich wird ihnen angeboten, frei zu sprechen. Es ist wichtig zu sehen, dass man nicht allein ist, sondern dass es ein gesellschaftliches Problem ist", unterstreicht Hauser.
Denn obwohl laut der afghanischen Verfassung Männer und Frauen vor dem Gesetz gleich sind, gelten die Rechte der Frauen meistens nur auf dem Papier, erklärt Monika Hauser. Ein drei Jahre altes "Dekret zur Eliminierung der Gewalt gegen Frauen", das die Rechte von Frauen schützen soll, ist bis heute nicht vom Parlament verabschiedet worden. Der Gesetzesentwurf legt unter anderem das Heiratsalter auf 16 Jahre fest.
Waslat Hasrat-Nazimi
© Deutsche Welle 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Waslat Hasrat-Nazimi ist Journalistin bei der Deutschen Welle und schreibt über aktuelle Ereignisse, Kultur und Politik in Afghanistan.