Für eine Braut, die keiner klaut
Alle 30 Minuten wird eine Frau in Kirgistan entführt und zur Eheschließung gezwungen, so berichtete der deutsche Auslandsrundfunksender Deutsche Welle 2017. Dass junge Frauen auf offener Straße, meist von mehreren Männern, in Autos gezerrt und zum Elternhaus ihres zukünftigen Ehemanns gebracht werden – darin sehen viele Kirgisen keine Straftat, sondern vielmehr den Erhalt einer Tradition.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch, dass es den Brauch in dieser Ausprägung vorher nie gegeben hat. Denn erst mit dem Zerfall der Sowjetunion zu Beginn der 1990er Jahre und den damit verbundenen sozialpolitischen Umwälzungen sowie der sich ausbreitenden Armut nahm die Zahl der Brautraube in Kirgistan stark zu.
Zwar kam es auch davor zu Entführungen, jedoch in weit geringerem Ausmaß. In der Zeitschrift "Menschenrechte für die Frau" der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes sieht die Autorin Anja Heifel darin einen Ausdruck falsch verstandener Männlichkeit und der untergeordneten Geschlechterrolle der Frau. Ihrer Meinung nach sei der Brauch für junge Männer im heiratsfähigen Alter eine aufregende Abwechslung im Alltagsleben – eine Unterhaltung auf Kosten der jungen Frauen.
"Eine gute Ehe beginnt mit Tränen"
Das Paradoxe an "Ala kachuu": Auch weibliche Familienmitglieder des Entführers, häufig selbst zwangsverheiratet, werden bei der patriarchalischen Praxis vom Opfer zur Täterin. Sie haben die Aufgabe, die entführte Frau im Haus des Entführers zu einem Einverständnis zu überreden. Die "Braut" kennt ihre Entführer häufig gar nicht oder nur flüchtig. Sie wird festgehalten und in manchen Fällen sogar vergewaltigt.
Eine Rückkehr ins Elternhaus rückt spätestens nach einer Nacht im Haus des fremden Mannes in unerreichbare Ferne. Zu bedeutend wäre das soziale Stigma. Oftmals widersprechen Frauen daher ihrem Schicksal nicht. Und dies, obwohl auch im unabhängigen Kirgistan eine unter Zwang geschlossene Ehe unter Strafe steht. Doch nur in den wenigsten Fällen endet die Freiheitsberaubung mit einer Anzeige. Ein kirgisisches Sprichwort bringt diese Ohnmacht auf den Punkt: "Eine gute Ehe beginnt mit Tränen".
Brautraub ist ein Verbrechen
Svetlana, ehemals Teilnehmerin des "CrossCulture Programms" des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa), möchte dieses Rollenverständnis nicht akzeptieren. Besonders, da sie "Ala kachuu" während ihres Studiums in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek beängstigend nahe kam. Damals versuchten mehrere junge Männer ihre Freundin und Mitbewohnerin zu entführen.
"Im Fernsehen bleibt Brautraub meilenweit vom persönlichen Schicksal entfernt", berichtet Svetlana. "Doch wenn es in unmittelbarer Nähe geschieht, so verändert sich der Blick darauf. Das bewegte mich zutiefst", erinnert sie sich an diesen Moment. Mit vereinten Kräften gelang es den beiden Studentinnen, die Entführer von ihrem Vorhaben abzuhalten.
Das ungute Gefühl jedoch blieb. "Die Tragik in dieser Geschichte war, dass meine Mitbewohnerin ihren Entführer wenige Monate später tatsächliche heiratete", so Svetlana. Seither ist jeglicher Kontakt abgebrochen.
Brautraub ist der falsche Weg in die Zukunft ihres Landes. Davon ist Svetlana überzeugt. Deshalb hat sie sich in ihrem Projekt "Ala kachuu is no cool!" das Ziel gesetzt, junge Menschen davon zu überzeugen, Brautraub als das anzuerkennen, was es tatsächlich ist: ein Verbrechen.
Ihrer Meinung nach ist es essenziell, dass sowohl junge Frauen, als auch deren Eltern über ihre Rechte, Pflichten und Verantwortlichkeiten Bescheid wissen. Für eine gemeinsame Wissensbasis versammelte Svetlana unterschiedliche Expertinnen an einem runden Tisch: Menschenrechtsvertreter, Wissenschaftlerinnen, Journalisten, Religionsgelehrte sowie interessierte Bürger tauschten sich zu Rechtsgrundlagen und bestehenden lokalen Projekten aus und trugen somit zur Klärung der Rolle von Politik und Medien bei.
Ergebnisse zum Anfassen
Basierend auf den Ergebnissen der Expertendiskussion, organisierte Svetlana zusammen mit Helfern ein viertägiges Training für Schulkinder aus Stadtrandsiedlungen der Hauptstadt Bischkek. Unter Anleitung von fachkundigen Trainern diskutierten Schülerinnen und Schüler über stereotype Geschlechterrollen die sich in Form von Diskriminierung oder häuslicher Gewalt auswirken können.
Fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer brachten persönliche Erfahrungen mit in den Workshop ein. Viele von ihnen kannten Entführungsopfer oder Männer, die an einer Entführung beteiligt waren. Am Ende verließen viele den Workshop mit der Überzeugung, sich nicht an einer Entführung zu beteiligen oder gar Menschen in Not davor zu beschützen.
Neben dem Training entstanden außerdem russisch- und kirgisischsprachige Informationsbroschüren, die in mehr als 40 Schulen und in sieben Städten des Landes verteilt wurden. Die Broschüren sollten besonders junge Schülerinnen und Schüler erreichen und über "Ala kachuu" aufklären.
An einer Stelle ist in großen Lettern die Zahl 155 zu lesen. Dabei handelt es sich um den Artikel des kirgisischen Strafgesetzbuches, nachdem die Entführung einer Frau mit der Absicht zur Heirat mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis sieben Jahren bestraft werden kann. "Lass dies den Verbrecher ruhig wissen!", so die Aufforderung in der Broschüre. "Der Artikel ist öffentlich, was so viel bedeutet, dass jeder Zeuge - nicht nur das Opfer - das Recht hat, die Straftat anzuzeigen."
Für große Aufmerksamkeit sorgte zudem eine Kurzgeschichte: Im zweiminütigen Animationsfilm durchlebt die junge Kirgisin Erkinay eine Achterbahnfahrt der Gefühle und Freiheiten. Trotz des Heiratsversprechens an ihren Partner Akjol kann sie sich nicht gegen eine Entführung wehren. Ihre Befreiung gelingt schließlich nur weil Polizei, Eltern und Freunde an einem Strang ziehen. Über soziale Medien erreichte der Film mehr als 50.000 junge Menschen und regte zu Diskussionen in den entsprechenden Kanälen an.
Grenzüberschreitende Erfolge
Zurückblickend freut sich die Projektinitiatorin über die konkreten Ergebnisse und den Erfolg ihres Einsatzes: "Es ist ein tolles Gefühl mitzubekommen, wenn Menschen unseren Film sehen oder die Broschüre in den Händen halten und darauf reagieren.
Erst kürzlich hat uns eine Partnerorganisation in Bischkek dabei unterstützt, unsere Broschüre in noch höherer Auflage zu drucken. "Jetzt haben wir etwa 2.000 weitere Exemplare, was fantastisch ist", freut sich Svetlana. "Es ist hoffentlich nur mein erster Schritt, um Lösungen für dieses gesellschaftliche Problem anzubieten."
Besonders stolz macht Svetlana die Tatsache, dass Menschenrechtsaktivisten im Nachbarland Kasachstan auf ihr Projekt aufmerksam wurden. Auch hier ist "Ala kachuu" ein bekanntes gesellschaftliches Problem. Sie möchten nun die gestalteten Informationsbroschüren verbreiten und sich gegen Brautraub engagieren.
Wolfgang Kuhnle