Der Bodensatz der Gesellschaft
Im Iran leben etwa eine Million afghanische Flüchtlinge. In den vergangenen Monaten gab es zahlreiche Berichte über tausende Hinrichtungen von ihnen im Iran. Iason Athanasiadis berichtet aus Kabul.
Es war gar nicht so sehr der massive, jede vorwärtsdrängende Bewegung zunichte machende Stau, der die Straßen der afghanischen Hauptstadt lahmlegte und die Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer auf sich zog. Vielmehr sorgte das beispiellose Schauspiel, das sich mitten auf der Straße abspielte, für Erstaunen.
Ganze Reihen von sich lautstark bemerkbar machenden Frauen marschierten die Straße entlang. Einige verschleiert unter himmelblauen Burkas, andere trugen schicke und bunte Kopftücher. Kühn bewegten sie sich auf dem Mittelstreifen der Straße vorwärts. Die sonst für afghanische Frauen übliche Zurückhaltung in der Öffentlichkeit hatten sie abgelegt; vielmehr wirkten sie so, als würden sie sich auf eine Schlacht vorbereiten.
Vor ihnen stieß ein Knäuel wütender junger Männer gegen die Linie der Polizisten vor, die sich rings um das stattliche Gelände der iranischen Botschaft positioniert hatten, um den Ansturm zurückzudrängen.
Die Polizisten trugen Polizeiknüppel, Kalaschnikows und Schilder zur Abwehr der Demonstranten; diese trugen ihrerseits Protestschilder vor sich her, deren Slogans selbst die hartgesottensten Aktivisten der Grünen Bewegung Irans aus dem letzten Sommer schockiert hätten.
"Tod dem iranischen Mullah-Regime" forderte ein Plakat; "Tod Khamenei und Ahmadinejad" ein anderes. Daneben zeigten einige Plakate Reihen von jungen, am Strick baumelnden Männern; offensichtliche Opfer massivster Folter.
Entstehung einer afghanischen Zivilgesellschaft?
Aber was lag dieser beispiellosen Demonstration wirklich zu Grunde? Beginnen die Afghanen etwa, ihre Kritik gegenüber der NATO und Pakistan etwas zurückzufahren und sich stattdessen ihrem westlichen Nachbarn, dem Iran, zuzuwenden?
"Für den ungeschulten Beobachter waren alle Kennzeichen einer neuen progressiven Bewegung vorhanden", schrieb im Juni die Kommentatorin Nushin Arbabzadeh im britischen Guardian. "Frauen, Männer und sogar Schulkinder marschierten Seite an Seite und forderten Gerechtigkeit für alle, unabhängig von Geschlecht, Ethnizität oder auch einfach nur der Art des Verbrechens, für die jemand verhaftet wurde. Es waren sonderbare Proteste, und sie vermittelten den Eindruck, dass sich ähnlich wie im Iran nun auch in Afghanistan eine Reformbewegung entwickelt haben könnte."
Hinrichtungen im Iran
Zalmai Ahmadi, ein Angehöriger eines Opfers, erklärte: "Mein Bruder wurde an der iranisch-afghanischen Grenze verhaftet. Unser Vater fuhr in den Iran, um seine Freilassung zu erwirken, doch sie schenkten ihm keinerlei Beachtung. Wir sahen meinen Bruder noch ein letztes Mal, bevor er hingerichtet wurde. Sein Arm war aus der Gelenkpfanne gerissen und sein Bein gebrochen. Sie haben ihn über ein Jahr lang gefoltert, um ihn dann am Ende hinzurichten."
Die afghanischen Demonstranten behaupten, dass in den letzten Jahren 3.000 Afghanen im Iran hingerichtet wurden. Iran folgt China in der weltweiten Liste der Vollstreckung von Todesurteilen. Abdul Zahir Faqiri, ein Sprecher des afghanischen Außenministeriums, bestätigte die Hinrichtungen, konnte aber keine konkreten Zahlen nennen.
Die iranische Regierung wiederum leugnet die Zahl von 3.000 Hinrichtungen und spricht ihrerseits von drei vollstreckten Todesurteilen. Bei den Hingerichteten handelte es sich ihrer Auskunft nach um "Drogen- und Waffenschmuggler".
"Wenn sie Iraner gewesen wären, hätten sie dasselbe Schicksal erlitten", ließ ein Sprecher des iranischen Außenministeriums über ein afghanisches Radio verlauten.
Für Hamid Dabashi, Professor an der Columbia Universität in New York, waren Afghanen im Iran "tatsächlich Opfer von institutionalisiertem und populärem Rassismus verschiedenster Ausprägungen." Im Sommer 1997, auf der Höhe der Flüchtlingswellen von Afghanistan in den Iran, beobachtete Dabashi "unübertroffenen Rassismus gegenüber afghanischen Flüchtlingen".
Letztes Jahr bereiste eine afghanische Wahrheitsfindungskommission den Iran, um sich ein Bild über die Lebensbedingungen afghanischer Flüchtlinge machen zu können. Laut einem iranischen Nachrichtenbericht kehrte die Kommission zufrieden zurück.
Iranisch-afghanischer Medienkrieg
Die iranischen Staatsmedien machten einen afghanischen TV-Sender für die Organisation einer Serie von anti-iranischen Demonstrationen in Kabul verantwortlich und beschuldigten ihn, "das Signal dafür aus den USA und Israel bekommen zu haben".
So stand in einem Artikel auf der Website der iranischen Staatsmedien: "Diese Proteste sind provoziert und organisiert worden von einem TV-Sender namens 'Today in Kabul', der einem Mitglied des afghanischen Nationalparlaments gehört. Während der TV-Sender kein Wort über die andauernden Flächenbombardements der US-Streitkräfte verliert, die immer wieder den Tod tausender unschuldiger Zivilisten verursachen, wirft es dem Iran Menschenrechtsverletzungen vor, weil es afghanische Drogenschmuggler hinrichten lässt."
Brutale Methoden
Auf der Demonstration wurde über weitere iranische Grausamkeiten und die Abschiebungen afghanischer Flüchtlinge aus dem Iran berichtet:
"Jeden Tag lag unser Verwandter im Krankenhaus, um sich von den Schlägen zu erholen, die ihm die Polizei zugefügt hatte", erzählte Arum Ahmadi. "Die Ärzte saugten ihm Blut ab, um es für ihre eigenen Notfallvorräte zu horten."
Ein junger Mann namens Dariush berichtete, dass seine Familie von der iranischen Regierung gezwungen wurde, die Kosten von 1.200 Dollar für die Beerdigung ihrer hingerichteten Verwandten zu erstatten. Sie durften nicht nur nicht an der Beerdigung teilnehmen; sie seien auch umgehend aus dem Land ausgewiesen worden.
"Während meiner Kindheit im Iran wurde ich von den iranischen Jungen getreten. Sie sagten, ich sei ein dreckiger, stinkender Afghane, und ich musste in der Klasse alleine in der letzten Reihe sitzen", erzählte Dariush. "Es stimmt, dass unsere Wirtschaft in Afghanistan schwach ist, aber das ist kein Grund, uns auszuweisen."
Iason Athanasiadis
© Qantara.de 2010
Aus dem Englischen übersetzt von Christian Horbach.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
Qantara.de
Interview mit Hikmet Çetin
Der Westen versteht Afghanistan nicht
Worin bestehen die größten Probleme beim Wiederaufbau Afghanistans? Und auf welche Strategien sollte der Westen im Umgang mit der Zentralregierung in Kabul setzen? Darüber hat sich Ayşe Karabat mit dem ehemaligen politischen Vertreter der NATO für Afghanistan, Hikmet Çetin, unterhalten.
Interview mit Rangin Dadfar Spanta
Wahlen als Meilenstein für die afghanische Demokratie
Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl am 20. August fordert der afghanische Außenminister Spanta im Gespräch mit Loay Mudhoon, den Wiederaufbau am Hindukusch zu stärken und den Demokratisierungsprozess weiter zu fördern.
Dokumentarfilm "Die Grüne Welle"
Aufstieg und Niedergang der iranischen Protestbewegung
Der Dokumentarfilm "Die Grüne Welle" von Ali Samadi erzählt das Drama um die iranischen Präsidentschaftswahlen 2009 nach und offenbart dabei ungewollt die Schwächen der Opposition gegen die Hardliner um Ahmadinejad und Khamenei. Von Stefan Buchen
Frauen in Afghanistan
Ohne Hoffnung
Die Lage der Frauen in Afghanistan hat sich seit dem Sturz der Taliban nicht verbessert, berichten afghanische Menschenrechtsaktivistinnen. Viele begehen Selbstmord, um häuslicher Gewalt zu entkommen. Von Claudia Isabel Rittel