Wege aus der Sackgasse
Nach einer fast zweijährigen Unterbrechung nahmen Israelis und Palästinenser am 2. September 2010 ihre direkten Friedensgespräche wieder auf. Aber diese Verhandlungen drohen zu scheitern, wenn Israel den zehnmonatigen Stopp des Siedlungsbaus nicht verlängert, der am 26. September abgelaufen ist. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas will erst nach den für Anfang Oktober geplanten Beratungen mit den Außenministern der Arabischen Liga entscheiden, ob die PLO die direkten Gespräche mit Israel fortsetzt.
Die israelische Marine hat das Boot "Irene" mit überwiegend jüdischen und fünf israelischen Passagieren gestoppt. Diese wollten "symbolische" Hilfsgüter für ein Krankenhaus in den abgeriegelten Gazastreifen liefern. Wie bewerten Sie diese Aktion?
Sari Nusseibeh: Es ist ein sehr gutes Zeichen, dass Juden und Israelis ihre Unterstützung für die Menschen in Gaza demonstrieren. Es ist eine mutige Aktion von Friedensaktivisten, und je mehr es solche Initiativen gibt, desto besser, denn sie bilden Brücken zwischen den Anhängern des Friedens auf beiden Seiten des Trennungszauns. Vielleicht können wir auf diese Weise die Führungen auf beiden Seiten zu einem Friedensabkommen drängen.
Ist die Gaza-Blockade der richtige Weg, um die Hamas politisch zu schwächen?
Nusseibeh: Nein, ich bin zwar gegen die Hamas. Aber ich glaube, dass die Haltung gegenüber der Hamas von Anfang an falsch war – sowohl die der Israelis, der Palästinenserbehörde, als auch der USA und der internationalen Gemeinschaft: Diese Haltung bestand darin, sie zu isolieren und ihren Wahlsieg nicht anzuerkennen.
All das wirkte gegen den Friedensprozess. Man hätte die Hamas-Regierung anerkennen sollen, und die von der Fatah geführte Palästinensische Autonomiebehörde hätte erst gar nicht versuchen sollen, Teil der Regierung zu werden. Dass sie das dennoch tat, wirkte sich nachteilig auf die Palästinenserbehörde und die Fatah aus.
Das Oberste Gericht in Israel lehnte die Ansprüche von Palästinensern im Ost-Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah auf ein großes Grundstück ab. Die Entscheidung kann jüdischen Siedlern den Einzug in dutzende Häuser, in denen jetzt Palästinenser wohnen, ermöglichen. Jüdische Aktivisten protestierten gegen die Räumung von drei palästinensischen Familien. Sie sind in Sheikh Jarrah im damals geteilten Jerusalem aufgewachsen…
Nusseibeh: Das geschah gleich um die Ecke vom Haus meiner Eltern. Ich bin mir nicht sicher, ob die Folgen dieses Falls ganz verstanden werden. Viele Israelis haben zuletzt dort für die palästinensischen Familien demonstriert. Aber soweit ich weiß, wurde dieses Gebiet vor vielen Jahren von Juden gekauft, und nach dem Krieg 1948 übergaben es die Jordanier dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), damit sie dort Häuser für palästinensische Flüchtlinge aus West-Jerusalem errichten.
Wenn die Palästinenser ihre Häuser verlassen müssen, weil sie in jüdischem Eigentum leben, sollen sie ihre alten Häuser in West-Jerusalem zurück bekommen. Die linken Israelis wollen das nicht, und daher demonstrieren sie, damit die Palästinenser in Sheikh Jarrah bleiben dürfen, was ein guter Kompromiss wäre.
Die Wiederaufnahme der Bauarbeiten in den Siedlungen verschärft den innerpalästinensischen Druck auf Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas. Er selbst rief erneut zu einem kompletten Stopp der Bautätigkeit in den jüdischen Siedlungen auf, stellte dies aber nicht zur Bedingung für eine Fortsetzung der Verhandlungen mit Israel und überlässt die Entscheidung der Arabischen Liga. Eine richtige Entscheidung?
Nusseibeh: Der Weiterbau der Siedlungen erschwert zunehmend eine Zwei-Staaten-Lösung. Das ist sogar die größte Gefahr für die Realisierung der Zwei-Staaten-Lösung, wie der US-Gesandte Mitchell zu Recht erkannte. Aber ich hätte dennoch das Thema Siedlungsstopp nicht in den Vordergrund gestellt. Denn angesichts der Geschichte der Verhandlungen ist es eindeutig unmöglich zu erwarten, dass die Israelis alle Bautätigkeiten einfrieren werden, bevor wir mit ihnen in Verhandlungen treten.
Was sollen die Tausenden palästinensischen Arbeiter tun, die in den jüdischen Siedlungen arbeiten?
Nusseibeh: Wenn ein 'kluger' Politiker fordert, dass palästinensische Bauarbeiter aufhören sollen, in den jüdischen Siedlungen zu arbeiten, muss er ihnen eine Alternative anbieten. Denn schließlich müssen diese Menschen überleben.
Obwohl eine Mehrheit der Israelis und Palästinenser eine Zwei-Staaten-Lösung, also die friedliche Gründung eines lebensfähigen Palästinenserstaates an der Seite Israels, befürwortet, wird dies immer unwahrscheinlicher. Als Gründe werden die jüdischen Siedlungen und die Sperranlagen genannt, die das Westjordanland von Ost-Jerusalem und dem Gazastreifen trennen. Was schlagen Sie als Alternative vor?
Nusseibeh: Wenn die Friedensgespräche scheitern, müssen wir eine Interimslösung finden, sonst befürchte ich eine Katastrophe. Ich schlage daher vor, dass alle Palästinenser im Westjordanland und in Gaza volle zivile Rechte in Israel erhalten, aber keine politischen Rechte. Das bedeutet, sie erhalten Bewegungsfreiheit innerhalb Israels, wo sie auch arbeiten und wohnen und Zugang zu Kranken- und Arbeitsversicherung erhalten könnten.
Ich schlage nicht vor, dass wir das Wahlrecht für das Parlament in Israel erhalten oder dass wir einen bi-nationalen Staat errichten. Aber es wäre vielleicht eine gute Idee, um die Lage zu beruhigen: Damit sich Israelis und Palästinenser begegnen können und auf diese Weise besser vorbereitet sind auf eine Zwei-Staaten-Lösung - wenn sie das wünschen.
Sie möchten also die Rechte der Palästinenser in Ost-Jerusalem erweitern. Ist dieses Modell zufrieden stellend?
Nusseibeh: Nein, aber es ist immerhin viel besser als das Gaza-Modell.
Die EU ist einer der großen Geldgeber der Palästinenserbehörde. Wie könnte Brüssel den Friedensprozess effektiver vorantreiben?
Nusseibeh: Wenn die Europäer die Palästinenserbehörde finanziell unterstützen, um die Schaffung eines Palästinenserstaates zu fördern, dann sollen sie einen Zeitplan für die Dauer der Verhandlungen setzen. Aber wenn sie es tun, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, dann sollen sie überlegen, wie sie die finanzielle Förderung fortsetzen. Vielleicht wäre es besser, die Palästinenser in Israel zu unterstützen oder in unser Bildungssystem zu investieren. Für die Kosten der Infrastruktur in den besetzten Gebieten sollen die Israelis allein aufkommen.
Einer der Stolpersteine zu einem Endabkommen ist die Frage der palästinensischen Flüchtlinge. In der Friedensinitiative, die Sie zusammen mit dem ehemaligen israelischen Geheimdienstchef Ami Ayalon 2003 lancierten, schlossen Sie eine Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge nach Israel aus. Dennoch unterschrieben 250.000 Israelis und 160.000 Palästinenser Ihr Grundsatzdokument. Wie erklären Sie sich diese Unterstützung?
Nusseibeh: Eine der Grundlagen für eine Zwei-Staaten-Lösung wird sein, dass die Palästinenser ihre Forderung nach einer Rückkehr ihrer Flüchtlinge nach Israel aufgeben müssen. Stattdessen sollen sie Entschädigungen erhalten oder in den Palästinenserstaat zurückkehren sowie andere Möglichkeiten.
Dieser Verzicht muss jedoch Teil eines umfassenden Vertrages sein, sonst gilt er nicht. Ich verstehe die Bedürfnisse der Israelis und bin bereit, mich damit zu befassen, aber nur, wenn Israel als Gegenleistung meine Bedürfnisse respektiert.
Interview: Igal Avidan
© Qantara.de 2010
Der palästinensische Philosoph, Politiker und Publizist Sari Nusseibeh leitet seit 1995 die arabische Al-Quds-Universität in Ostjerusalem. Von 1988 bis 1991, zur Zeit der Ersten Intifada, gehörte er dem Leitungsgremium der PLO an, später überwarf er sich mit Jassir Arafat. Zusammen mit dem israelischen Exgeheimdienstchef Ami Ajalon legte er 2003 einen Friedensplan vor, der die Grundzüge einer künftigen Zwei-Staaten-Lösung benannte.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
Qantara.de
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