Gefangen im nationalen Trauma

In seinem Buch "Hitler besiegen" mahnt der israelische Politiker und Friedensaktivist Avraham Burg seine Landsleute, sich endlich vom Trauma des Holocausts zu befreien und Vertrauen in die politische Zukunft zu fassen. Ulrich von Schwerin hat Burg in Berlin getroffen.

In seinem Buch "Hitler besiegen" mahnt der israelische Politiker und Friedensaktivist Avraham Burg seine Landsleute, sich endlich vom Trauma des Holocausts zu befreien und Vertrauen in die politische Zukunft zu fassen. Ulrich von Schwerin hat Burg in Berlin getroffen.

Avraham Burg; Foto: &copy Campus-Verlag
Mit seinem Buch "Hitler besiegen"</wbr> wagt der israelische Politiker und Mitbegründer der Friedensbewegung "Peace Now"</wbr> die kritische Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der gegenwärtigen Politik seines Landes.

​​Manche Bücher sind so kontrovers, dass sie nie gedruckt werden. Avraham Burgs Buch "Hitler besiegen – Warum sich Israel endlich vom Holocaust lösen muss" ist immerhin so umstritten, dass es vier Jahre gedauert hat, bis es schließlich auf Deutsch übersetzt wurde, obwohl dem Autor, wie er betont, an keiner Übersetzung so viel lag wie jener ins Deutsche.

Dass es so lange gedauert hat, bis das Buch nun im Campus-Verlag erscheinen konnte, liegt daran, dass Burg darin eine These vertritt, die nicht nur in Israel, sondern auch in Deutschland vielen als problematisch, manchem gar als gefährlich erscheint.

In seinem Buch kritisiert Burg, dass der Holocaust das Handeln und das Denken, letztlich die gesamte Identität Israels bestimme. Die Erinnerung an die Opfer werde als Rechtfertigung für die Politik missbraucht, auch und nicht zuletzt der Politik der Vertreibung und Besatzung in Palästina.

"Alles ist erlaubt, weil wir die Shoah durchgemacht haben und niemand uns sagen darf, was wir zu tun haben", schreibt Burg. "Uns erscheint alles gefährlich, und unsere normale Entwicklung als neues Volk, Gesellschaft und Staat steht still."

Unzulässige Vergleiche

Durch den Verweis auf die Vergangenheit werde in der Gegenwart ein Gefühl der ständigen Bedrohung aufrecht erhalten, das längst nicht mehr gerechtfertigt sei. Sicher stelle die Politik Ahmadinedschads ein ernsthaftes Problem dar, sagt Burg im Gespräch.

Holocaust Memorial Museum in Jerusalem; Foto: dpa
"Gefangen in einem nationalen Trauma, das verhindert, dass sich Israel ohne Vorbehalte der Zukunft zuwendet" - Kerzen im Holocaust Memorial Museum in Jerusalem

​​ Dennoch sei der Vergleich mit 1938, wie er von Politikern wie Netanjahu gezogen werde, ein unzulässiger Missbrauch des Holocaust. Hätten die Juden 1938 etwa, fragt Burg, über atomare Bewaffnung, eine der mächtigsten Armeen der Region und den Rückhalt der Großmächte der Welt verfügt?

Burg selbst zieht in seinem Buch einen Vergleich, den er seitdem immer wieder gegen den Vorwurf verteidigen muss, historisch falsch zu sein. Denn seiner Meinung nach steht Israel heute dort, wo sich Deutschland zum Ende der Weimarer Republik befand: nationalistisch, militaristisch und gefangen in einem nationalen Trauma, das verhindert, dass sich das Land ohne Vorbehalte der Zukunft zuwendet.

Was in Deutschland der Vertrag von Versailles war, ist seiner Meinung nach der Holocaust in Israel. Dort wie hier definiere sich die eigene Identität in Abgrenzung zum Anderen.

Sturm der Empörung

Es wundert nicht, dass diese Ideen in Israel als Zumutung empfunden werden und einen Sturm der Empörung auslösten. Umso weniger, da Burg dort, wie er schreibt, einst zu den "Symbolen des Staates" gehörte:

Geboren 1955 als Sohn des deutschen Holocaust-Überlebenden Josef Burg, der als Minister über Jahrzehnte die israelische Politik mitprägte, stieg er selbst bis zum Sprecher des israelischen Parlaments, der Knesset, auf, bevor er sich 2004 aus der Politik zurückzog, da seine Hoffnung auf den Vorsitz der Arbeiterpartei gescheitert war.

​​ Über viele Jahre stand er zudem der "World Zionist Organisation" und der "Jewish Agency" vor, der israelischen Einwanderungsbehörde. In dieser Funktion bestimmte er über Einwanderungsbestimmungen für russische und äthiopische Juden, der letzten beiden bedeutenden Diaspora-Gemeinden außerhalb des Westens.

Ihm sei dabei bewusst geworden, sagt er heute, dass damit eine Epoche zu Ende ging. Denn da mit wenigen Ausnahmen fortan die Juden in Demokratien lebten, mache die Idee Israels als Schutzburg und Fluchtort nicht länger Sinn.

Burg ist natürlich bewusst, dass er mit solchen Thesen die Meinung einer Minderheit vertritt. Doch bestehe im Judentum die ehrwürdige Tradition, auch die Meinung der Minderheit zu respektieren, sagt er, da man schließlich wisse, dass sie die Mehrheitsmeinung von morgen sein könne.

Auf den Vorwurf angesprochen, er liefere Antisemiten Argumente gegen Israel, wird der sonst so milde Mann laut: Nur weil seine Worte von Antisemiten zitiert werden könnten, sei er nicht bereit, sich selbst zu zensieren.

Kontroverse und Provokation

Aus seiner Lust an der Kontroverse macht Burg kein Geheimnis. Er ist überzeugt, dass man nur im Disput etwas bewegen kann. Doch auch wenn er sich seit langem für die Friedensbewegung "Peace Now" engagiert, hat er seine Ideen erst nach seinem Rückzug aus der Politik zu Papier gebracht.

Anlass dafür war das Gefühl, dass Israel die Richtung verloren hat, und der Eindruck, dass der Holocaust in der Öffentlichkeit allgegenwärtig ist: Kein Tag in Israel, ohne dass die Presse nicht vom Holocaust und seinen Folgen schreiben würde.

Hinzu kam der Eindruck, dass nun, da die letzten Überlebenden des Holocaust verschwinden und die Gesellschaft von einer unmittelbaren zu einer vermittelten Erinnerung übergehe, der richtige Moment für eine solche Debatte gekommen sein könnte – einer Debatte, die für Burg zentral für die Lösung des Konflikts mit den Palästinensern ist.

Schließlich seien die Elemente eines Friedensabkommens längst klar, meint Burg, doch solange beide Seiten sich gegenseitig das Unrecht vorhalten, dass ihnen in der Vergangenheit angetan wurde, komme man nicht voran.

Da Israel den Palästinensern die Rolle der Nazis übertragen habe, sei jedes Gespräch mit ihnen unmöglich, kritisiert Burg, der als Politiker entschieden für Verhandlungen eingetreten ist.

Nicht nur dürfe man die Palästinenser nicht mehr als Nazis sehen, sondern man müsse auch anerkennen, dass die Juden, die zuvor selbst so oft vertrieben wurden, der Grund für die Vertreibung der Palästinenser sind.

Die Israelis sollten den Holocaust nicht vergessen, sagt Burg, doch sie sollten daraus die Lehre ziehen, dass das "nie wieder" nicht nur für die Juden, sondern für alle Völker gelten müsse.

Ulrich von Schwerin

© Qantara.de 2009

Avraham Burg: "Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss", aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2009

Qantara.de

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