Frauenrechte nur auf dem Papier
Die Situation der Frauen in Afghanistan ist nach wie vor erschreckend, so der aktuelle Report von Amnesty International. Noch ist der Weg zur Gleichstellung, wie es die afghanische Verfassung vorsieht, Jahrzehnte entfernt. Doch es gibt auch kleine Fortschritte. Von Petra Tabeling
Ein kleines Mädchen wird in der Stadt Herat mit zehn Jahren bereits zum dritten Mal verheiratet, der Ehemann ist fast 80 Jahre alt - noch immer bittere Frauenrealität in der afghanischen Provinz, vier Jahre nach dem Sturz des Taliban-Regime und eineinhalb Jahre nach dem Beschluss der so genannten Verfassungsgebenden Großen Ratsversammlung, der Loya Jirga, die Gleichstellung von Mann und Frau gesetzlich festzulegen. Doch die offiziellen Gesetze finden bislang in der afghanischen Realität meistens nur auf dem Papier ihre Gültigkeit.
Zielscheibe Frau
In ihrem am 30. Mai diesen Jahres veröffentlichten Bericht "Afghanistan - Women still under attack – a systematic failure to protect" zieht die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International eine bittere Bilanz:
Traditionelle patriarchalische Strukturen, die sich in der Justiz, in der Familie und in anderen Bereichen der afghanischen Gesellschaft nach wie vor halten sowie eine zunehmend hohe Gewaltbereitschaft, machen es Mädchen und Frauen schwer, ein menschenwürdiges Leben zu führen.
Entführungen, Zwangsheiraten, Frauen- und Mädchenhandel, selbst Steinigungen sind nach wie vor die größten Gefahren, denen eine Frau vor allem in den ländlichen Gebieten Afghanistans ausgesetzt sein kann.
Zwar gibt es in der Hauptstadt Kabul Schönheits- und sogar seit neuestem Sportstudios, auch gibt es Frauen, die ohne Burka auf die Straße gehen, doch ist das sehr weit weg von der Frauenrealität auf dem Lande. Dort sind nach wie traditionelle Rechtssysteme, die Scharia, zum Teil maßgebender, als Demokratisierungs- und Reformprozesse.
In ländlichen Gebieten haben Stammesfürsten und "Warlords", die schon unter der Taliban-Herrschaft ihre Macht ausübten, nach wie vor die oberste Entscheidungsgewalt.
Errungenschaften mit Hindernissen
Solche Strukturen beeinträchtigen die Errungenschaften der neuen Verfassung für Frauen. Frauen dürfen bspw. wieder wählen, Berufe erlernen, Kinder zur Schule gehen. Fast 90 Prozent der Frauen können weder lesen noch schreiben. Zwar ist das Heiratsalter bei Frauen auf 16 und bei Männern auf 18 Jahren festgelegt worden. Doch noch immer ist es keine Seltenheit, dass Mädchen mit neun oder zehn Jahren verheiratet werden.
Afghanische Frauen nehmen in der Regel am öffentlichen Leben kaum teil. Die Menschenrechtsverletzungen von Frauen reichen von Bedrohungen im Alltag bis hin zu Vergewaltigung und Mord, so die erschütternde Bilanz des Amnesty-Reports.
Ihre Peiniger, etwa Männer aus dem Militär oder der eigenen Familie, müssen strafrechtlich wenig befürchten – dafür Frauen umso mehr, wenn sie verdächtigt werden, eine unmoralische Tat begangen zu haben.
So kennen viele der Frauen, die oft unter miserablen Bedingungen in Frauengefängnissen inhaftiert sind, oft gar nicht den Grund ihrer Verhaftung, noch ihre Rechte - oder aber es wird überhaupt kein Prozess gegen sie eröffnet.
Gewalt gegen Frauen wird vielerorts nicht als Verbrechen gesehen. Ohne jeglichen Beistand die von der Verfassung garantierten Grundrechte einzufordern, ist schwer. "Das eine allein stehende Frau, selbstständig in Kabul leben kann, ist nach wie vor undenkbar", bestätigt Margit Spindeler, Leiterin der Frauenhilfsprojekte in Afghanistan von medica mondiale e.V.
Gezielte Vorbereitungen zum Umdenken
Die Frauenrechtsorganisation, auf deren Arbeit der Amnesty-Report verweist, versucht diese Strukturen zu durchbrechen, indem sie Netzwerke knüpft zu den Verantwortlichen in Politik, Verwaltung und Justiz.
Einen Bewusstseinswandel innnerhalb der Gesellschaft für mehr Grundrechte von Frauen zu erreichen, ist eines der wichtigsten Ziele. Seit 2002 führt medica mondiale unterschiedliche Projekte in Kabul und zunehmend auch in den Provinzen durch.
Die Organisation bildet einheimische Fachfrauen aus dem medizinischen und psychosozialen Bereich für den Umgang mit Frauen aus, die Opfer von Vergewaltigung und Folter sind und sorgt dafür, dass sich einheimische Juristinnen um Insassinnen in den Frauengefängnissen kümmern.
Afghanische Ärztinnen aus dem Exil klären u. a. über Drogen, Aids, Depressionen und hohe Suizidgefahren unter Frauen in Afghanistan auf. "Mittlerweile ist unsere Arbeit in der Bevölkerung gefragt und unsere einheimischen Mitarbeiter können sich heute sogar alleine im Land bewegen", resümiert die Afghanistan-Expertin Spindeler.
Selbsttötungen als letzter Ausweg mit steigender Tendenz
Beunruhigend sei allerdings die zunehmende Zahl der Selbstmorde unter Frauen, auf die der Amnesty-Report hinweist. Das bestätigt auch medica mondiale. Mehrere hundert Frauen im Jahr verbrennen sich selbst, aus Frustration über ihre ausweglose Lage. Doch die genauen Gründe sind nicht bekannt, denn in ländlichen Gebieten ist es schwierig, exaktere Erkenntnisse über die Umstände zu erfahren.
Auch die zunehmende Aggression im Land sei beunruhigend. Nach 25 Jahren Krieg und drei Jahre nach der Herrschaft der Taliban ist die Situation nach wie vor sehr unsicher. Die sich in letzter Zeit häufenden Anschläge in den Provinzen Kundus, Baghlan, Takhar und Badakhshan machen es vor allem für Frauen schwierig, ihren Alltag zu leben.
Zumindest die Präsenz weiblicher Sicherheitskräfte, die seit 2004 ausgebildet werden, hat dazu beigetragen, dass bei der Wahl des Staatsoberhauptes Karsai im Oktober 2004 die Wahlbeteiligung von Frauen bei 40 Prozent lag. Für die anstehende Parlamentswahl im September 2005 hoffen die Hilfsorganisationen auf eine stärkere Beteiligung von Frauen an der Wahl.
Petra Tabeling
© Qantara.de 2005
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Schutzhäuser für Frauen in Afghanistan
Nach dem Sturz der Taliban hat sich die Situation der Frauen in Afghanistan kaum verbessert. Deshalb weitet die deutsche Hilfsorganisation medica mondiale jetzt ihre Aktivitäten auch auf die Provinzen aus.
NAZO bietet Hilfe zur Selbsthilfe für Frauen
Die deutsche Filmemacherin Elke Jonigkeit lernte während ihrer Dreharbeiten in Afghanistan die schwierige Situation der einheimischen Frauen hautnah kennen. Durch den Verein NAZO will sie die Frauen und damit den Wiederaufbau des Landes unterstützen. Sigrid Dethloff berichtet
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