Islam in Sicht - und doch in weiter Ferne

In dem Sammelband "Islam in Sicht" untersuchen die Autoren Gründe und Auswirkungen der zunehmenden Sichtbarkeit islamischer Symbole im öffentlichen Raum. Ines Braune stellt den Band vor.

In dem Sammelband "Islam in Sicht - Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum", herausgegeben von Nilufer Göle und Ludwig Ammann, untersuchen die Autoren Gründe und Auswirkungen der zunehmenden Sichtbarkeit islamischer Symbole in der Öffentlichkeit. Ines Braune stellt den Band vor.

Moscheeführung am der Tag der offenen Moschee in Berlin; Foto: AP
Islamische Symbole werden im öffentlichen Raum immer sichtbarer, eine einheitliche islamische Identität aber gibt es nicht

​​Die Aufsatzsammlung stellt sich dem Sachverhalt einer verstärkten Sichtbarkeit des Islam in Form von Moscheen, Kopftüchern, islamischen Kulturvereinen etc. im öffentlichen Bereich. Ziel des Buches ist es, dieses verstärkte Auftreten des Islam durch die Analyse des Transfers islamischer Praktiken und Symbole in die Öffentlichkeit verständlich zu machen.

Die Autoren sprechen diesbezüglich von der "zweiten Phase des Islamismus", was zunächst verwirrend klingt, werden mit Islamismus doch vor allem radikale politische Gruppierungen assoziiert; diese prägen jedoch – so die Autoren – die erste Phase des Islamismus.

Ab den 1990er Jahren betreten neue muslimische Akteure die Bühne: Intellektuelle, Unternehmer, Jugendliche. Deren Forderungen richten sich nicht gegen das System, sondern stehen für eine Teilhabe am öffentlichen Leben.

Aus dem "Muslim" als natürlicher angeborener Kategorie wird der "Islamist", der den Islam als bewusste Entscheidung für das islamische Anderssein und die gleichzeitigen Akzeptanz des modernen Lebens wählt.

Keine einheitliche islamische Identität

Der Islamist übt sich nicht nur in stiller Akzeptanz, nein, der Rückgriff auf den Islam bietet eine Positionierung und eine "oppositionelle Handlungsmacht" in der modernen Welt. Dabei dringt der Islam tief in die sozialen Strukturen des Alltags ein - im Gegensatz zu den außerhalb des Systems stehenden radikalen Forderungen der "ersten Islamisten". Das bedeutet aber keinesfalls, dass die heutigen Forderungen nach Teilhabe weniger politisch sind.

Die so entstehenden und gelebten "Islame" sind so vielgestaltig und hybrid, dass sie sich einer kollektiven Zuschreibung, was islamische Identität ist, entziehen.

Um diese Vielgestaltigkeit islamistischer Identitäten deutlich zu machen und die Mechanismen aufzuzeigen, ist der Sammelband dreigeteilt. In den ersten Kapiteln des Buches werden die grundlegenden Auffassungen dargestellt: über Islamismus und Moderne (Nilüfer Göle), über Öffentlichkeit im Singular oder besser öffentliche Räume im Plural (Christian Geulen) und über das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem im Islam (Ludwig Amman).

Das Herzstück des Buches sind die Fallbeispiele aus der säkularen Republik Türkei, der Islamischen Republik Iran und aus dem pluralistischen Europa, die an überwiegend empirischen Studien deutlich machen, wie sich im Raum und am Körper die islamischen Symbole manifestieren.

Drei Kapitel - verstanden als Ausblick - komplettieren das Buch: Shmuel N. Eisenstadt stellt die Rolle der Öffentlichkeit in der islamischen Geschichte dar, Simonetta Tabboni verweist auf das Wechselspiel zwischen Identität und Alterität und Charles Taylor beleuchtet die Rolle der Religion in den Identitätskämpfen der Moderne.

Glaube bietet Orientierung

Hieraus wird ersichtlich, mit welcher Komplexität und Dichte sich das Autorenteam der Problematik widmet. Um nicht zu allgemein zu bleiben, soll ein Aspekt aus den Fallbeispielen herausgegriffen werden, der das Zusammenleben mit Muslimen im europäischen Kontext betrifft.

In den Beiträgen wird präzise beschrieben, wie der Glaube Orientierung und Selbstvertrauen gibt als "Sprungbrett in die nicht-islamische Mehrheitsgesellschaft".

Als "Türken" stigmatisiert und als minderwertig betrachtet, spielt die Religion eine entscheidende Rolle, das "Stigma in eine Quelle der Selbstermächtigung zu verwandeln" und offensiv zu handeln.

Der Rückgriff auf den Islam ist ein Weg zur Bewältigung von Erfahrungen und Erlebnissen als stigmatisierter Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft. Dabei ist die Funktion der Religion keineswegs fest zementiert, sondern wird je nach spezifischer Situation neu ausgehandelt, um den Alltag zu meistern.

Bedürfnis nach 'Gleichsein'

Vor diesem Hintergrund erfüllen islamische Kulturvereine verschiedene Funktionen. Sie sind ein Treffpunkt, wo Jugendliche zusammen kommen können, um sich über die alltäglichen Herausforderungen in einer Mehrheitsgesellschaft auszutauschen.

Die Entwicklung eines Wir-Gefühls verleiht einerseits der einzelnen Person innere Stärke und ermöglicht andererseits, die Interessen und Bedürfnisse - gleich einer zivilgesellschaftlichen Organisation - nach außen, in der Öffentlichkeit, zu artikulieren.

Dabei folgt die Forderung der Muslime nach Anerkennung der Logik des Gleichseins mit Teilen der Mehrheitsgesellschaft. Als Folge werden religiöse Gemeinschaften - gleich denen anderer Religionen - gebildet, die jedoch auf konfessioneller Differenz beruhen.

Die islamischen Kulturvereine bieten also einen alternativen Raum, der zwischen Innen- und Außenwelt vermittelt und somit nicht nur zum Handeln bezüglich religiöser Forderungen, sondern auch zu weiterem zivilen Engagement ermächtigt.

In Sicht oder in weiter Ferne?

An dieser Stelle muss jedoch kritisch nachgefragt werden: Was, wenn die Alternativ-Räume zu Gegen-Räumen werden; wenn es nicht um Integration, sondern um Abgrenzung und Überlegenheit geht?

Es ist wünschenswert, wenn die Muslime in Sicht(weite) gelangen, da sie durch ihre öffentlichen Forderungen erreichbar werden. Was aber passiert, wenn dies nur geschieht, um sich von der Mehrheitsgesellschaft auszugrenzen, und die Muslime somit in weite Ferne rücken?

Die bloße Anerkennung der Differenz verhüllt meines Erachtens das darunter liegende Problem der Asymmetrie, der Machtkämpfe um Vorherrschaft in einem kulturellen Raum. Einzig Geulen verweist in seinem Beitrag auf dieses Problem und fragt, ob das Modell einer symmetrischen Anerkennung verschiedener Positionen als denkbare Lösungsform sinnvoll ist, oder ob nicht andere Ansätze gesucht werden müssen, um ein Miteinander in einer Gesellschaft zu verwirklichen.

Die Mehrheitsgesellschaft ist gefragt

Die oben aufgeworfenen Fragen werden von dem Autorenteam nicht gestellt, und so bleibt es eine Antwort darauf schuldig. Was jedoch detailliert und präzise herausgearbeitet wird, ist der endgültige Abschied von einem Schreckgespenst Islam.

Der Islam tritt als eine Bezugsquelle zur Bewältigung des alltäglichen Lebens, als Orientierung in der Mehrheitsgesellschaft in vielerlei Facetten in Erscheinung und eben in die Öffentlichkeit.

Vor diesem Hintergrund formuliert Nilüfer Göle auch die zentrale Hypothese: "Die öffentliche Sichtbarkeit des Islam und die mit dieser Sichtbarmachung verbundenen spezifischen Praktiken [...] erzeugen neue Vorstellungen von einer kollektiven Identität und einem gemeinsamen Raum, die sich vom westlichen liberalen Selbst und von der Politik des Fortschritts deutlich unterscheiden".

Der Finger weist in Richtung Mehrheitsgesellschaft: in dem Maße, wie der Rückgriff auf den Islam die Muslime bzw. Islamisten zum Handeln ermächtigt, werden nationale Konsensprinzipien destabilisiert und hinterfragt. Die Mehrheitsgesellschaft ist nun herausgefordert, den Umgang mit Minderheiten neu zu bestimmen und sie in das Konzept der Moderne zu integrieren.

Die Angst vor "dem Islam" hilft dabei nicht weiter, und eine erste intensive Auseinandersetzung mit "den Islamen" liegt mit diesem Sammelband vor.

Ines Braune

© Qantara.de 2005

​​Nilüfer Göle / Ludwig Amman [Hrsg.] (2004). Islam in Sicht. Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum. Bielefeld: Transcript, 384 Seiten, ISBN 3-89942-237-6

Qantara.de
Nilüfer Göle
Moderne Frauen tragen Kopftuch
Nicht-Muslime sehen oft im Tragen des Kopftuchs ein Zeichen der Erniedrigung und Unterdrückung muslimischer Frauen. Doch statt eines Stigmas ist das Kopftuch für Muslime verstärkt zum Zeichen eines positiven Bekenntnisses zu ihrer religiösen Identität geworden, meint die türkische Soziologin Nilüfer Göle.

Muslime in Frankreich
Symptombekämpfung statt Lösungsansätze
In Frankreich begegnet man den Problemen der marginalisierten Jugendlichen in den Banlieues wie auch der sichtbaren Präsenz des orthodoxen Islam mit einer Mischung aus Indifferenz und Hilflosigkeit. Jürgen Ritte berichtet.

Dossier: Der Streit ums Kopftuch
Die Kontroverse über das Tragen des Kopftuchs ist nicht nur in Deutschland allgegenwärtig. Auch in den Nachbarstaaten und in der islamischen Welt erhitzt das Thema zunehmend die Gemüter. Wir beleuchten die Aspekte, Hintergründe und gesellschaftlichen Realitäten der Kopftuchdebatte.

www
Mehr zum Buch im Verlag transcript