Politische Lösungen in weite Ferne gerückt

Das erneute Aufflammen bewaffneter Konflikte mit der PKK hat die Spannungen im Südosten der Türkei erhöht und diejenigen, die für weitere demokratische Reformen plädieren, in die Defensive gedrängt. Einzelheiten von Ömer Erzeren

Das erneute Aufflammen bewaffneter Konflikte mit der PKK hat die Spannungen im Südosten der Türkei erhöht und diejenigen, die für weitere demokratische und politische Reformen plädieren, in die Defensive gedrängt. Einzelheiten von Ömer Erzeren

Sondereinheiten des türkischen Militärs in Diyarbakir; Foto: AP
Der türkische Staat rüstet zum Kampf gegen die PKK auf - Sondereinheiten der Armee in Diyarbakir

​​Nach langwierigen bürokratischen Hürden sind in der Türkei mehrere private kurdische Radio- und Fernsehsender auf Sendung gegangen. Sendungen in kurdischer Sprache sind das Ergebnis des Reformprozesses der vergangenen Jahre. Noch vor einem Jahrzehnt leugnete der türkische Staat die Existenz des kurdischen Volkes.

Doch die Publikation kurdischer Zeitschriften und Bücher und kurdische Radiosendungen sind heute in der Türkei kaum eine Nachricht wert. Wenn heute von der kurdischen Frage die Rede ist, ist von Gewalt die Rede. Von toten Soldaten und Guerilleros, von Fememorden, von Bomben, von Straßenschlachten und Plünderungen.

Mit dem bewaffneten Kampf, den die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) 1984 begann, drang die kurdische Frage als politisches Problem in den Blickwinkel der Öffentlichkeit. Fast vierzigtausend Menschen starben in den achtziger und neunziger Jahren im Zuge der militärischen Auseinandersetzungen zwischen türkischer Armee und PKK.

Vom schmutzigen Krieg zum Liberalisierungsprozess

Es war ein schmutziger Krieg, dessen Hauptleidende Zivilisten waren. Über eine Million kurdischer Bauern wurden von ihren Dörfern vertrieben, weil sie der Unterstützung für die PKK bezichtigt wurden. Das Jahr 1999 war ein Wendepunkt.

Die PKK-Kämpfer waren militärisch besiegt, ihr Führer Abdullah Öcalan, der stalinistisch die Organisation leitete, kam in türkische Haft. Öcalan erhielt die Todesstrafe, die später in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt wurde.

Nach dem Prozess gegen Öcalan und unter starkem europäischem Druck im Zuge der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union, begann ein politischer Liberalisierungsprozess. Zuletzt wurde der Ausnahmezustand, der über zwei Jahrzehnte in den kurdischen Regionen herrschte, aufgehoben.

Mit Gewalt und Toten ist die kurdische Frage im Frühjahr dieses Jahres in den politischen Mittelpunkt gerückt. Das Begräbnis von PKK-Kämpfern im kurdischen Diyarbakir Ende März löste die blutigen Krawalle aus.

Es waren vor allem Kinder und Jugendliche, die sich nicht nur Gefechte mit der Polizei lieferten, sondern auch Geschäfte plünderten. Im Zuge der Unruhen, die auch in den Städten Hakkari, Batman und Mardin ausbrachen, kamen über ein Dutzend Menschen ums Leben.

Mobilisierung der Ärmsten der Armen

Die PKK reagierte mit Bombenschlägen in Istanbul. Drei Menschen starben bei einem Brandanschlag auf einen Autobus. In bürgerlichen Wohnviertel Bakirköy in Istanbul detonierte eine Bombe in einem Müllcontainer. 37 Staatsanwälte und Richter entgingen knapp dem Tod. Ein leerer Akku verhinderte die Fernzündung der Bombe, die in einem Dienstbus versteckt worden war.

Die jüngsten Ereignisse unterscheiden sich erheblich von den Protesten in den neunziger Jahren, als die PKK in den kurdischen Regionen breite Unterstützung zu Protesten organisieren konnte. Es waren die Ärmsten der Armen, die diesmal mit Eisenstangen und Brandsätzen in Diyarbakir auf die Straße zogen. Es waren kurdische Einzelhändler, deren Geschäfte geplündert wurden.

Selbst der Bürgermeister von Diyarbakir konnte die jugendlichen Aktivisten nicht stoppen. Die politisch geschwächte PKK mobilisierte die Halbwüchsigen in den Slums von Diyarbakir.

Träger der Gewalt war eine Generation, die Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre geboren ist. Kinder von Familien, die aus ihren Dörfern vertrieben wurden und in den Slums der Großstädte unter der Armutsgrenze leben, eine Generation, die mit Gewalt groß geworden ist.

Einkommensgefälle zwischen Ost und West

Abdullah Öcalan wird von ihnen einem Gott gleich verehrt. Nicht deshalb, weil es um politische und kulturelle Rechte der Kurden geht, sondern weil die Gewalt eine Antwort auf die soziale Marginalisierung darstellt. Selbst ein kurzer Blick auf die Zahlen des Statistischen Institutes offenbart die starke, regionale Ungleichheit in der Verteilung des Reichtums.

Umgerechnet nur zwei Euro ist durchschnittlich der tägliche Pro-Kopfverbrauch im kurdischen Südostanatolien. Über das Dreifache wird in Istanbul ausgegeben. Die jüngste Gewalt in den kurdischen Städten wird die Situation eher noch verschlechtern. Mehrere Investoren vertagten bereits anvisierte Wirtschaftsprojekte in der Region.

Die Gewaltwelle kam für viele unerwartet. Auch die Regierung in Ankara wurde offenbar überrascht. Die Regierung unter Ministerpräsident Tayyip Erdogan, die zu Anfang ihrer Amtszeit Dialogbereitschaft signalisierte, macht sich zunehmend nationalistische Positionen zueigen.

Von Reformen ist kaum die Rede. Dafür will man die Anti-Terror-Gesetzgebung verschärfen. Ministerpräsident Erdogan griff die Politiker der kurdischen DTP (Partei der demokratischen Gesellschaft), die in der Region zahlreiche Bürgermeister stellt, an. Bevor diese nicht öffentlich die PKK als terroristische Organisation brandmarkten, werde er ein Gespräch mit ihnen verweigern.

Die Bürgermeister, die im Rahmen eines politischen Dialoges wichtig sind, weil sie Repräsentanten einer legalen, politischen Partei darstellen, werden zwischen den Forderungen des türkischen Staates und der PKK, die informell im Parteiapparat großen Einfluss besitzt, aufgerieben.

Kritik an der PKK

Der Stellenwert der kurdischen Frage in der Gesellschaft hat sich mittlerweile verändert. Noch vor einem Jahrzehnt beobachtete die Masse der Bevölkerung von der Ferne aus den Kampf zwischen PKK und Sicherheitskräften. Auch wenn die Mehrheit der Türken die kompromisslose, staatliche Politik gegenüber der PKK billigte, kam es nicht zu Ausschreitungen gegen Kurden.

Heute entwickeln sich rassistische Ressentiments – gegen kurdische Tagelöhner und kurdische Straßenkinder. Noch vor Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass nicht die Polizei, sondern Anwohner kurdische Demonstranten vertreiben.

Eine Demonstration von PKK-Sympathisanten in Istanbul zeigt die Veränderung. Jugendliche, die für die Freilassung des PKK-Führers Öcalan demonstrierten, wurden in Dolapdere von den Anwohnern, die Roma sind, verprügelt und vertrieben.

Die nationalistischen Einpeitscher geben den Ton an, was wiederum der geschwächten PKK nützt. Vieles hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Kurdische Kritik an der PKK war vor Jahren noch eine Seltenheit.

Heute mehren sich kurdische Stimmen, die die PKK verdammen. Doch die jüngste Gewalt hat diejenigen, die für weitere demokratische und politische Reformen plädieren, in die Defensive gedrängt. Eine politische Lösung scheint in die Ferne gerückt.

Ömer Erzeren

© Qantara.de 2006

Qantara.de

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