Die verödeten Dörfer der Seele
"Meine Erinnerungen haben sich in verödeten Dörfern verloren“, sagt Hatice, eine der Protagonistinnen in Yavuz Ekincis neuem Roman "Das ferne Dorf meiner Kindheit“, auf dem Sterbebett. Dass sie den Namen Hatice auf Druck ihres Mannes annahm und dafür ihren armenischen Namen ablegte, weiß zu diesem Zeitpunkt keines ihrer um sie herum versammelten Kinder.
"Erst wurde das Dorf verwüstet, in dem ich geboren und aufgewachsen war und mich verliebt hatte, dann das andere Dorf niedergebrannt, in dem ich geheiratet, meine Kinder zur Welt gebracht und Freude an ihnen gehabt hatte. Sind zwischen den Trümmern zweier Dörfer nur meine Erinnerungen geblieben?“ fragt sie im Roman.
Ekincis Roman ist in der Türkei bereits 2012 erschienen, es ist sein drittes Werk, das ins Deutsche übersetzt wurde. Ekinci, 1979 in Batman geboren und dort aufgewachsen, lebte zuletzt in Istanbul als Schriftsteller, Lehrer und Herausgeber einer Schriftenreihe zur kurdischen Exilliteratur.
Lange Zeit blieb er von der Hexenjagd des türkischen Regimes auf kritische Intellektuelle verschont, bis er 2022 wegen fast zehn Jahre alter Tweets angeklagt wurde. Man warf ihm Propaganda für die PKK vor und verurteilte ihn schließlich zu eineinhalb Jahren Haft auf Bewährung. Mit einer ähnlichen Argumentation wurde wenig später sein Roman "Traumsplitter“ (nicht ins Deutsche übersetzt) verboten.
Ekinci packt die großen Themen an. Im Roman "Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam“ (Verlag Antje Kunstmann 2017) geht es um ein namenloses Dorf, das von einer genauso namenlosen Armee bedroht wird, bis es schließlich zum Äußersten kommt.
Große Themen
Es ist ein Buch, das man auf vielerlei Weise lesen kann, denn zwischen den Zeilen schwingen nicht nur die innertürkischen Kulturkämpfe mit.
Es geht auch um eine Atmosphäre der Angst vor einem Willkürstaat und vor der alltäglichen Unsicherheit, ob das eigene Leben nicht morgen schon ebenso in Trümmern liegt wie das Dorf selbst.
In "Die Tränen des Propheten“ (Verlag Antje Kunstmann 2019) schickt Ekinci voll tiefschwarzem Humor seinen Protagonisten in das Abenteuer, sich im Twitter-Zeitalter als neuer Prophet zu etablieren – worauf dieser herzlich wenig Lust hat und von einem Fettnäpfchen ins nächste stolpert.
In "Das ferne Dorf meiner Kindheit“ geht es um die Dinge, über die man in der Türkei bis heute nicht spricht oder die man schlicht verleugnet: Den Genozid an den Armeniern und den brutalen Krieg der türkischen Armee und der Behörden gegen die kurdischen Dörfer.
Einerseits. Andererseits geht es um traditionell-patriarchalische Gesellschaftsstrukturen, um Religion und Aberglauben, um kindliche Naivität, die auf die Schrecken der Realität prallt. Und an ihnen zerbricht.
Die als Triptychon konzipierte Erzählung, die sich über knapp ein Jahrhundert erstreckt, beginnt mit der Perspektive von Rüstem, einem kleinen Jungen, der aus naiv-kindlichen Augen auf die Zwänge und Konflikte seiner kurdischen Dorfgemeinschaft blickt.
Rüstem lebt mit seinem Vater und seinen Schwestern bei Großmutter Hatice und deren Mann Hassan. Sein Bruder ist fortgegangen, in die Berge, immer wieder stürmt die Polizei das Haus, sucht nach ihm. Für den Staat ist Rüstems Bruder ein Terrorist, für die Dörfler ein Hoffnungsträger, für Rüstem selbst einfach nur der große Bruder, den er gerne wiedersehen will.
Ekinci erspart dem Leser nichts
Das Dorf lebt traditionell. Man ist religiös und liest den Koran, legt die Regeln aber gerne auch so aus, wie es gerade zum Leben passt. Der örtliche Imam ist streng, aber gütig, und zur Stelle, wenn jemand Hilfe braucht. Rüstem will endlich zu den Großen gehören, ein echter Mann sein, auch wenn er nicht so richtig weiß, was das sein soll.
Wenn die Milchzähne ausfallen, bist du ein Mann, sagt der eine. Wenn die erste Erektion kommt und du nicht mehr bei den Frauen baden darfst, meint ein anderer. Sein Vater sieht den wichtigsten Schritt zum Erwachsenwerden in der Einschulung. Doch die Freude über den ersten Schultag weicht schnell der Verwirrung. Denn der Lehrer, der einem idealisierten Zerrbild Atatürks huldigt, wie es in der Türkei so weit verbreitet ist, verbietet den Kindern vom ersten Tag an, Kurdisch zu sprechen.
Weil Rüstems Bruder nicht mehr auftaucht, sondern bewaffnet in den Kandil-Bergen gesichtet wird, stürmt schließlich die Armee das Dorf und ermordet den Imam, brennt die Häuser nieder. Für Großmutter Hatice ist es das zweite Mal, dass sie dieses Grauen erleben muss.
Beim Genozid an den Armeniern in 1915 war sie die einzige Überlebende ihres Dorfes. Ihr Mann Hassan nahm sie auf, änderte ihren Namen, zwang sie zu konvertieren und behielt das Geheimnis für sich.
Ihr Leben lang schweigt sie, auch wenn die Kinder Insekten zertreten und dazu meinen, das seien ja bloß "Armenier“.
Ekinci erspart seinem Publikum nichts. Er erzählt von einer Welt, in der man entweder Täter ist, unwissentlich die Sprache der Täter spricht oder dazu gezwungen wird – oder in der man schweigen und sich selbst verleugnen muss, um zu leben.
Das Grauen setzt sich fort
Und so setzt sich das Grauen aus den Geburtsstunden der Türkischen Republik bis heute fort.
Atatürks nationalistisches Narrativ kann ohne Gewalt nicht existieren – das steht so nicht im Roman. Es ist aber die Botschaft zwischen seinen Zeilen, die sich kaum überlesen lässt.
In dieser Welt setzt sich die Gewalt über den Tod hinaus fort. So wie damals noch die Leichen der Genozidopfer geschändet wurden, kann heute eine simple Beerdigung zum politischen Akt werden.
Rüstems Großmutter nimmt ihr Geheimnis nicht mit ins Grab, sondern vertraut es im letzten Moment ihren Kindern an. Weil sie weiß, dass sie ihnen vertrauen kann. Sie weiß aber auch, dass es am Ende nicht mehr hilft.
Yavuz Ekinci gehört mit diesem und auch seinen weiteren Romanen zu den wichtigsten Stimmen der türkischen Gegenwartsliteratur. Er ist ein großer Erzähler und ein eleganter Stilist, der moderne Prosa mit türkischen und kurdischen Erzähltraditionen verbindet.
Er lässt beide Erzähltraditionen eine literarische Symbiose eingehen und ist zugleich ein Autor, der sich nicht scheut, jene Themen anzupacken, um die andere in der Türkei einen großen Bogen machen. Das Ergebnis ist Weltliteratur von höchstem Rang.
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Yavuz Ekincis, "Das ferne Dorf meiner Kindheit“, aus dem Türkischen übersetzt von Gerhard Meier, Verlag Antje Kunstmann 2023, 325 S.
Yavuz Ekinci, 1979 in Batman geboren, arbeitet als Lehrer und ist Herausgeber einer Reihe zur kurdischen Exilliteratur. Für sein Prosawerk erhielt Ekinci zahlreiche Preise, darunter den Human Rights Association Story Award. Zuletzt erschienen die Romane »Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam« (2017) und »Die Tränen des Propheten« (2019). Ekinci lebt in Istanbul.