"Entweder du liebst dieses Land, oder du verlässt es!"
Arat Dink, Sohn des im Januar 2007 ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink, wurde wegen der Wiederveröffentlichung eines Interviews mit seinem Vater zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Der Vorwurf: Beleidigung des Türkentums. Schon sein Vater war wegen desselben Interviews verurteilt worden. Er hatte in dem Interview vom Völkermord an den Armeniern gesprochen. Aydin Engin kommentiert.
Wäre Hrant Dink, der Chefredakteur der Zeitung Agos nicht umgebracht worden, hätte er in diesem Verfahren auch eine Gefängnisstrafe bekommen.
Wenn eine veröffentlichte Nachricht nicht mit dem Namen des Journalisten oder Autors gezeichnet ist, müssen nach dem sehr demokratischen (!) türkischen Strafgesetzbuch der geschäftsführende Chefredakteur der Zeitung, der Inhaber der Zeitung oder sein Stellvertreter und der verantwortliche Redakteur auf der Anklagebank Platz nehmen.
Hrant Dink ist diese Strafe erspart geblieben, weil er ermordet wurde. Arat Dink, der verantwortliche Redakteur, und Sarkis Seropyan, als Vertreter der Agos Limited, werden bestraft, weil sie noch leben. Im Türkischen gibt es ein Sprichwort, dass diese Regel des Türkischen Strafgesetzbuchs sehr treffend beschreibt: "Der Blinde nimmt, was er kriegen kann!"
Arat Dink und Sarkis Seropyan werden nicht ins Gefängnis gehen, denn ihre Strafe wurde ausgesetzt. Sollten sie jedoch das gleiche Vergehen noch einmal begehen, müssen sie die ausgesetzte Strafe antreten.
Das bedeutet, dass Arat Dink, Sarkis Seropyan und die Autoren der Zeitung Agos von nun an jedes Wort auf die Goldwaage legen müssen, was einem Balanceakt gleicht. Funktioniert erzwungene Selbstzensur also auf diese Weise?
Ein Ausblick:
Das Urteil, nach dem Arat Dink und Sarkis Seropyan schuldig sind, wird vom Kassationsgerichtshof aufgehoben und Arat Dink und Sarkis Seropyan werden freigesprochen. Das kann sich jeder ausrechnen, auch wenn er nicht juristisch gebildet ist.
Begründung:
Im Gerichtsurteil wird von "Aussagen, die zu einem Vergehen führen" gesprochen. Das heißt es wird hier auf einen Satz verwiesen, den Hrant Dink in einer Erklärung für die Agentur Reuters gebrauchte:
"Sicher ist das ein Völkermord, sage ich. Denn das Ergebnis selbst beschreibt den Vorfall und klassifiziert ihn. Sie sehen, dass ein Volk, das seit viertausend Jahren auf diesem Boden lebt, im Zusammenhang mit dem, was passiert ist, von der Bildfläche verschwunden ist."
Diesen Satz in der Zeitung Agos zu veröffentlichen, war nach Meinung des Gerichts ein Vergehen, obgleich derselbe Satz in den Tagen, bevor er in Agos abgedruckt worden war, in genau dieser Form in den visuellen Medien und in den Printmedien veröffentlicht worden war. (In den Tageszeitungen: Yeni Şafak, Radikal, Milliyet, Birgün, Zaman. Im Fernsehen in den Kanälen: CNN Türk, NTV, Kanal D, Sky TV.) Gegen diese Zeitungen und Fernsehsender wurde keinerlei Verfahren eingeleitet.
Daher bedeutet das Urteil dieses Gerichts: "Vor dem Gesetz sind alle gleich, doch die armenischen Journalisten sind etwas weniger gleich."
Das Kassationsgericht wird dieser Art von Logik nicht folgen. Das ist keine Wunschvorstellung, sondern eine juristische Tatsache, denn das oberste Revisionsgericht hat schon zuvor in ähnlichen Verfahren diese Logik zurückgewiesen, d.h. es hat die Urteile der niederen Instanzen aufgehoben.
Und das bedeutet ...
Nun, dass zwei Journalisten der Zeitung Agos verurteilt wurden, ist an sich nicht so wichtig. Das ist in der Türkei nur ein kleiner, wie ich meine, ein ziemlich kleiner Teilaspekt der "Armenischen Frage".
Das Problem liegt viel tiefer und ist viel umfassender.
In der Türkei nimmt der Nationalismus in ungezügelter Weise zu. Dieser Nationalismus wird durch beängstigende, rassistische Motive verstärkt und erlebt durch Kräfte, die sich an der Basis des Staates eingenistet haben, einen Aufschwung.
Ein Slogan, der bis heute von marginalen, faschistischen Gruppen verwendet wurde, wird allmählich zur offiziellen Meinung: "Entweder du liebst dieses Land, oder du verlässt es!"
Die ältesten Völker Anatoliens, die Armenier, die Kurden, die Juden, die Griechen und die syrischen Christen haben nur eine Wahl: "Entweder du liebst dieses Land, oder du verlässt es!"
Auf der Vorderseite des Wagens, der im Oktober 2007 den Mörder Hrant Dinks vom Gefängnis zum Gericht brachte, stand: "Entweder du liebst dieses Land, oder du verlässt es!"
Eine Gruppe von Leuten, die die Mörder vor Gericht unterstützen wollten, hatten sich versammelt und riefen: "Entweder du liebst dieses Land, oder du verlässt es!"
Den Intellektuellen und Demokraten, die die Vorgänge des Jahres 1915 in der Türkei aufarbeiten und geschichtlich einordnen wollen, schallt dieser Slogan entgegen: "Entweder du liebst dieses Land, oder du verlässt es!"
Die Antwort, die man jenen gibt, die Vorschläge zur friedlichen Lösung der Zypernfrage unterbreiten, ist ganz kurz: "Entweder du liebst dieses Land, oder du verlässt es!"
Für jene, die sagen oder schreiben, dass es unmöglich ist, die Kurdenfrage mit Waffen und militärischen Maßnahmen zu lösen, gibt es nur eine Antwort: "Entweder du liebst dieses Land, oder du verlässt es!"
Es war schon immer schwer in der Türkei Demokrat zu sein. Heute ist es noch schwerer, Demokrat zu bleiben ...
Aydin Engin
Aus dem Türkischen von Wolfgang Riemann
Aydin Engin ist Kolumnist der türkisch-armenischen Zeitschrift Agos, deren Chefredakteur Hrant Dink war. Jetzt hat dessen Sohn Arat Dink diesen Posten inne.
© Qantara.de 2007
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