"Ich habe mich über das Gefängnis lustig gemacht"

2016 bekam der ägyptische Schriftsteller Ahmed Naji ein Jahr Gefängnis, weil er mit einem Roman angeblich die "öffentliche Moral“ verletzt hatte. Mit schwarzem Humor gibt Naji in seinem neuen Buch "Rotten Evidence“ einen Einblick in den ebenso banalen wie grausamen Alltag in ägyptischen Gefängnissen.
Der ägyptische Schriftsteller Ahmed Naji. (Foto: privat)

2016 bekam der ägyptische Schriftsteller Ahmed Naji ein Jahr Gefängnis, weil er mit einem Roman angeblich die "öffentliche Moral“ verletzt hatte. Mit schwarzem Humor gibt Naji in seinem neuen Buch "Rotten Evidence“ einen Einblick in den ebenso banalen wie grausamen Alltag in ägyptischen Gefängnissen. 

Von Hannah El-Hitami

In Ihrem neuen Buch “Rotten Evidence“ schreiben Sie: "Ich sah mich selbst nie als Schriftsteller, bis ich inhaftiert wurde.“ Nach acht Monaten in Haft entschieden Sie, "ein Schriftsteller zu sein“. Wie kam es dazu? 

Ahmed Naji: Vor meiner Inhaftierung hatte ich bereits zwei Romane veröffentlicht, aber ich verstand mich selbst als Journalist. Ich sah mich nicht als Schriftsteller, weil mir das wie eine zu große Verpflichtung erschien. Das überforderte mich. Doch plötzlich wurde ich inhaftiert, weil ich Schriftsteller war. Im Gefängnis beginnt man, alles zu überdenken.

Man fragt sich, ob die Sache, die einen ins Gefängnis gebracht hat, es wert war. Die Antwort fand ich eines Nachts, als ich aufwachte, um auf die Toilette zu gehen. Dort fand ich einen meiner Mitgefangenen, tränenüberströmt. Normalerweise war dieser Typ eiskalt, doch jetzt war er völlig aufgelöst. Als ich ihn fragte, was los sei, erzählte er mir von dem Buch, das er gerade las.

Es handelte sich um eine Liebesgeschichte für Teenager, doch er war davon so bewegt, dass er nicht mal das Cover ansehen konnte, ohne sich an bestimmte Sätze zu erinnern und erneut in Tränen auszubrechen. "Du musst es lesen!”, flehte er mich an. “Es hat mein Herz zerschmettert.“ Tagelang drängte er mich dazu, das Buch zu lesen.

Ich versuchte es zwar, musste aber abbrechen, weil es so schlecht war. Doch mir hat dieses Erlebnis klar gemacht, dass in der Literatur eine geheime Macht steckt. Sie konnte sogar eine kaltherzige Kreatur wie meinen Mitgefangenen berühren und ihn dermaßen erschüttern.

Sie wurden vor sieben Jahren inhaftiert, von Februar bis Dezember 2016. Warum war jetzt der richtige Zeitpunkt, ein Buch zu veröffentlichen, das sich mit Ihrer Haft beschäftigt? 

Naji: Ursprünglich wollte ich gar nichts über die Zeit im Gefängnis schreiben, denn ich bin kein besonderer Fan von Gefängnisliteratur. Doch seit 2013 unterdrückt das ägyptische Regime die Meinungsfreiheit und jede politische Aktivität im Land mit massiver Härte. Politische Haft ist weit verbreitet. Ich würde sogar sagen, dass die meisten Familien mindestens einen Angehörigen haben, der in den letzten zehn Jahren Haft erlebt hat.

"Gefängnisliteratur wird von politischen Narrativen dominiert"

Als ich aber nach Literatur darüber suchte, fand ich überraschenderweise gar nichts. Manche ehemalige Gefangene schreiben auf Facebook über ihre Erfahrungen, aber das war es dann. Ich entschied also, doch ein Buch über das Gefängnis zu schreiben. Ich begann schon 2017 nach meiner Entlassung damit, einzelne Fragmente aufzuschreiben. Die arabische Version wurde dann 2020 in Ägypten veröffentlicht.

Cover von Ahmed Najis "Rotten Evidence" (auf Englisch erschienen beim Verlag McSweeney (Quelle: Verlag)
Komisch, trotzig und mutig: Wie kann man sich ohne Kühlschrank regelmäßig mit Gemüse versorgen? Wie schreibt man mit nur einem Notizbuch einen Roman? Wie bekämpft man am besten die Langeweile? Und vor allem wie kann man die Sinnlosigkeit begreifen, wegen eines Romans im Gefängnis zu sitzen? Ahmed Najis Roman ist eine Hommage an die Kraft der Fantasie angesichts autoritärer Repression.

In Ägypten? Das ist überraschend.  

Naji: Ja, das Buch konnte dort erscheinen, aber sie haben ihm ein Exportverbot erteilt. Es durfte zum Beispiel nicht in die Golfstaaten verkauft werden, die zu den wichtigsten Abnehmern von ägyptischer Literatur gehören.

Schließlich hat der Berliner Verlag Khan al-Janub eine neue Version des arabischen Buchs veröffentlicht.

Ich selbst lebe seit 2018 in den USA und war von Anfang an Teil einer Community von Künstlern und Autoren. Ich wollte mich mit ihnen austauschen, und dazu gehört, dass man die Werke der Anderen liest.

Darum hat es mich sehr gefreut, als die Übersetzerin Katharine Halls mein Buch las, es mochte und es übersetzen wollte. 

Warum mögen Sie eigentlich keine Gefängnisliteratur? 

Naji: Ägyptische Gefängnisliteratur wird von politischen Narrativen dominiert. Wenn man die Gefängnisliteratur von Muslimbrüdern liest, geht es darin nur um ihre Opferrolle.

Darauf bauen sie wiederum eine Kultur der Gewalt und Rache auf. Bei linker Gefängnisliteratur geht es mehr um Heldentum, darum sich selbst für die Sache und die Nation zu opfern.

Beide Gruppen waren in den gleichen Gefängnissen, aber scheinen von völlig unterschiedlichen Welten zu schreiben. Das politische Narrativ verzerrt ihre Darstellung. 

Sie waren kein politischer Gefangener. Sie wurden aus einem absurden Grund verhaftet, weil ein älterer Herr angeblich wegen einer Passage in Ihrem Roman, den er gelesen hatte, Herzprobleme bekam. Wie hat das Ihre Position als Gefangener beeinflusst? 

Naji: Das war verwirrend und einer der Gründe, warum ich das Buch geschrieben habe. Als Journalist in Ägypten erwartet man eigentlich, jederzeit aus irgendwelchen politischen Gründen inhaftiert zu werden. Darauf war ich vorbereitet. Aber mein Fall war ganz anders als alles, was ich erwartet hätte. Ich kam nicht als politischer Gefangener in Haft. Meine Kategorie hieß „Unzucht“. Ich war mit korrupten Polizisten, Geschäftsmännern, Multimillionären und drogenschmuggelnden Ausländern in einer Zelle. Die Erfahrung war ganz anders als erwartet. 

Im Buch beschreiben Sie die Kameradschaft unter den Gefangenen, aber auch die Qual, permanent von Menschen umgeben zu sein. Wie blicken Sie heute darauf zurück? 

Naji: Über meine Mitgefangenen zu schreiben, war das schwierigste an diesem Buch. Wir lebten zusammen, aßen zusammen, schliefen nebeneinander. Wir mussten aufeinander aufpassen, auch wenn es manchmal Streit gab. Oft ist es in Gefängnisromanen so, dass der Autor fasziniert von den Mitgefangenen ist, die aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen kommen.

Ich wollte aber keine Ausstellung exotischer Personen erschaffen. Ich wollte meine Mitgefangenen auch nicht durch die Linse des Staates betrachten, der sie als Kriminelle sieht. Darum habe ich mich nicht lange mit ihren Fällen beschäftigt, sondern versucht, die Momente der Solidarität und Liebe, der Freundschaft und der blöden Witze einzufangen.

"Ich wollte nicht romantisieren"

Im Buch klingt es eher so, als hätten die Anderen Sie die meiste Zeit ziemlich genervt. 

Naji: Ja, ich wollte sie ja auch nicht romantisieren. Nicht jeder Gefangene ist ein Held. Nein, es sind einfach normale Menschen. Und klar waren wir genervt voneinander, schließlich waren wir zusammen eingesperrt. Wären wir nicht voneinander genervt gewesen, dann wären wir keine Menschen mehr. 

In Ihrem Buch geht es eher wenig um die Schrecken des ägyptischen Gefängnisses, die weit verbreitete Folter und die unmenschlichen Haftbedingungen. Sie beschreiben den Alltag mit schwarzem Humor. Nur hin und wieder wird die Erzählung von Szenen durchbrochen, die an den Ernst der Lage erinnern: Als die Männer in der Nachbarzelle stundenlang an die Tür hämmern und rufen, dass jemand stirbt; als eine Leiche aus dem Gefängnis abgeholt wird; und wenn Sie von der willkürlichen Gewalt und Erniedrigung durch die Wärter berichten. Wie passen diese beiden Ebenen zusammen, das absurd Komische und das Schreckliche? 

Naji: Mein Ansatz war, mich darüber lustig zu machen. Wie gesagt bemerkte ich nach meiner Entlassung, dass es keine zeitgenössische Gefängnisliteratur gibt. Was es aber gab, waren massenweise Texte von Menschenrechtsorganisationen und manchmal auch Zeitungen, die dokumentieren, was im Gefängnis passiert.

Sie berichten detailliert über Menschenrechtsverletzungen, um rechtlich dagegen vorzugehen. Ich schrieb hingegen für mich selbst und für meine Leser. Würde ich eine Klage wegen Folter vorbereiten wollen, würde ich mich an meinen Anwalt wenden, doch ich hatte andere Absichten. Und mir war es wahnsinnig wichtig, mich selbst nicht in eine Opferrolle zu begeben, vor allem nicht beim Schreiben.  

 

 

Träume als Fenster zur Außenwelt

Im Buch schreiben Sie: “Ich achtete stets darauf, mich nicht selbst zu bemitleiden oder mein Schicksal zu beklagen.“ Das stelle ich mir schwierig vor, wie haben Sie das geschafft? 

Naji: Ich fühle mich einfach nicht wohl in der Rolle des Opfers und genauso wenig in der des Helden. Selbst wenn ich Opfer bin, ist das Schreiben für mich ein Weg, um mich aus dieser Position zu befreien. 

Im Gefängnis haben Sie ein Traumtagebuch geführt und in Ihrem Buch spielen Träume eine wichtige Rolle. Warum? 

Naji: Meine Mutter schrieb Träumen schon immer eine große Bedeutung zu. Damit bin ich aufgewachsen. Morgens beim Frühstück erzählten wir unsere Träume. Sie interpretierte sie und traf manchmal sogar Entscheidungen auf der Grundlage von Träumen. Ich war also dadurch geprägt und hatte selbst viel über Träume und das Unbewusste gelesen. Im Gefängnis entdeckte ich dann eine weitere Bedeutung von Träumen: Sie werden zum einzigen Fenster zur Außenwelt, um der Welt zu entkommen, in der man gefangen ist.

Jede Nacht wartet man auf seine Träume. Man vermisst seine Familie und Freunde und hofft, ihnen im Traum zu begegnen. In meiner Zelle wurde viel über Träume gesprochen. Im Koran gibt es eine Geschichte über den Propheten Yusuf (in der Bibel Josef, Anm der Red.), der zu Unrecht in Ägypten inhaftiert wird. Er analysiert die Träume seiner Mitgefangenen und sagt ihre Zukunft voraus. Tatsächlich werden seine Prophezeiungen wahr. Viele Menschen, die ich im Gefängnis getroffen habe, kennen diese Geschichte und sind besessen von der Idee, dass ihre Träume die Zukunft vorhersagen. 

Wie sehen Sie aktuell die Lage der Presse- und Meinungsfreiheit in Ägypten im Vergleich zu 2016, als Sie inhaftiert wurden? 

Naji: Die Situation wird immer schlimmer und das weltweit. In so vielen Länder erleben wir gerade einen Aufschwung des Faschismus. Ideale, die als selbstverständlich galten – Menschenrechte und Demokratie – werden wieder infrage gestellt. Das legitimiert auch autoritäre Regime. Sie unterdrücken die Meinungsfreiheit, doch solange sie Migranten von den europäischen Grenzen fernhalten, werden sie unterstützt. 

Als Student waren Sie Mitglied der Muslimbruderschaft, traten aber aus, als Ihre Uni-Gruppe zum Verbrennen eines Buchs aufrief, das angeblich Sexszenen und Gotteslästerung enthielt. Jahre später wurde ihr eigenes Buch aus ähnlichen Gründen angegriffen – allerdings nicht von der Muslimbruderschaft, sondern von einem Regime, das die Muslimbruderschaft bekämpft. Was sagt das über die politische Situation in Ägypten aus? 

Naji: Es zeigt, dass sich beide Seiten nie für Meinungsfreiheit eingesetzt haben. Das ist auch kein Geheimnis. Die Muslimbruderschaft glaubt, dass Zensur der Weg ist, um eine muslimische Gesellschaft zu formen und bestimmte kulturelle Werte zu schützen. Das Militär macht genau das Gleiche, nur mit einem Fokus auf nationaler Identität.

Doch in der ägyptischen Verfassung ist das Recht auf Meinungsfreiheit festgeschrieben. Diese Verfassung ist ein Produkt mehrerer Revolutionen und jahrzehntelanger Kämpfe für politische Selbstbestimmung. Natürlich hat sich kein ägyptisches Regime je an die Verfassung gehalten. Aber die Mehrheit der Ägypterinnen und Ägypter hat bewiesen, dass sie daran glaubt. 

Das Interview führte Hannah El-Hitami.

© Qantara.de 2023

Ahmed Naji, "Rotten Evidence: Reading and Writing in an Egyptian Prison“, aus dem Arabischen ins Englische übersetzt von Katherine Halls, McSweeney's Publishing, San Francisco 2023, 209 S.