Pogromstimmung gegen Demokraten
Es ist kaum vorstellbar, dass die obersten Muslimbrüder noch daran glauben, dass sie ihren gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi tatsächlich ins Amt zurück bringen können. Mit dem von Volk und Militär herbeigeführten Sturz vor dreieinhalb Wochen und in dessen Folge wurden Tatsachen geschaffen, die so vollendet sind, dass man schon an pathologischem Realitätsverlust leiden muss, um sie zu übersehen.
Würde die Bruderschaft an ihre mittelfristige Zukunft denken, käme es ihr vor allem darauf an, nicht noch mehr Sympathien ihrer Landsleute zu verspielen. Stattdessen heizen die Prediger und Agitatoren der Bruderschaft die Stimmung ihrer Anhänger in den Protestcamps immer weiter auf. Es werden immer neue Maßnahmen ersonnen, denen die Bruderschaft das Etikett „ziviler Ungehorsam“ verpasst, die aber nichts weiter sind, als sinnlose Provokationen mit tragischen Folgen. Schlägerbanden oder Sicherheitskräfte oder beide gemeinsam schlagen dann zurück und Tote sind zu beklagen – übrigens ausnahmslos in den Reihen des Muslimbrüder-Fußvolks, während ihre Führer mit immer größerem Zynismus die Opferrolle kultivieren.
“Gezielte Hinrichtung durch Sicherheitskräfte”
Mindestens 80 Mursi-Anhänger wurden im Morgengrauen des 27. Juli in der Nähe ihres Kairoer Protestcamps von Sicherheitskräften und Schützen in Zivil getötet. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erklärte nach dem Blutbad, dass rund 80 Prozent der Opfer mit gezielten Schüssen in Kopf und Brust erschossen wurden.
An jenem Samstag konnten Polizeibeamte in Uniform dabei beobachtet werden, wie sie auf Mursi-Anhänger zielten, ohne für sich selbst Deckung zu suchen. Es war offensichtlich, dass sie kein Gegenfeuer befürchteten. Human Rights Watch schreibt, es sei unvorstellbar, dass es ohne die Absicht zu töten so viele Tote gegeben hätte.
Schuld sind die Schützen bzw. ihre Befehlsgeber, aber die Muslimbruderschaft muss sich die Frage gefallen lassen, welche Verantwortung sie für sinnlose, tödliche Eskalationen trägt, die keinen einzigen Zweck erfüllen – außer dass Märtyrerfotos für ihre Propaganda entstehen.
Besonders seltsam aber ist, dass sich in der Führungsriege niemand zu fragen scheint, ob die Bruderschaft nicht allzu bereitwillig eine Rolle annimmt, die ihr auch zugedacht ist.
Kein demokratischer Neuanfang nach Mursi
Ende Juni hatten Millionen Ägypter das Gefühl, die Notbremse ziehen zu müssen. Sie wollten sich des Muslimbrüder-Regimes entledigen, weil sie – zu Recht, wie ich glaube – Angst hatten, dass sie es bei der nächsten Wahl Jahre später nicht mehr loswerden könnten. Die Armee stellte sich an die Seite des Volkes und setzte Mursi ab. Aber haben Armee und Volk wirklich dieselben Interessen?
Was nach Mursis Entmachtung geschah, kann kaum noch als demokratischer Neuanfang oder als nachträgliche Korrektur der Revolution bezeichnet werden. Die Militärs bauten die Muslimbruderschaft als übermächtige, dunkle Gefahr auf, ganz wie zu Zeiten Mubaraks. Von den linientreuen Medien, also von derzeit fast allen im Land, werden ihre Anhänger nur noch „Terroristen“ genannt. Die Militärs versetzten große Teile des Volkes in einen Rausch, der von Rachegelüsten, Hetze und Häme geprägt ist.
In diesem chauvinistischen Taumel merken nur wenige, dass eine atemberaubende Umdeutung all dessen begonnen hat, was mit der Revolution zu tun hat. Die Generäle präsentieren sich nun als die obersten Revolutionäre. In ihrem Fahrwasser werden alle die Institutionen reingewaschen, die eben noch als Bastionen des Mubarak-Regimes galten: Polizei, Rechtsprechung, Wirtschaftselite, Staatsmedien, aber auch private TV-Sender, von denen sich die einflussreichsten im Besitz von Geschäftsleuten befinden, die unter Mubarak reich wurden. Alle diese Bastionen haben die letzten zweieinhalb Jahre nach seit der Revolution zum Teil in der Deckung, aber unbeschadet überstanden. Jetzt sind sie wieder voll da.
Stunden nach dem Blutbad vom 27. Juli verkündete Innenminister Mohammed Ibrahim – unter Mubarak verantwortlich für Ägyptens Gefängnisse –, dass etliche jener Abteilungen des Staatssicherheitsdienstes bereits wieder arbeiten, die nach der Revolution abgeschafft worden waren. Einen Tag später warnte sogar die militärtreue Bürgerbewegung Tamarod, die die Millionenproteste vom 30. Juni gegen Mursi initiiert hatte, vor einer Rückkehr des berüchtigten Staatssicherheitsapparates. Heba Morayef von Human Rights Watch hält die angebliche Abschaffung der Stasi Ägyptens im Jahre 2011 ohnehin nur für ein Täuschungsmanöver.
„Entweder mit oder gegen uns“
Die Stimmung gegen die Muslimbruderschaft ähnelt – bei aller notwendigen Kritik an ihrer repressiven Absichten – jener Stimmung, die in den USA während der Amtszeit von George W. Bush herrschte, als es hieß: „Entweder mit oder gegen uns.“ Kritik, Skepsis und differenzierte Zwischentöne gelten per se als unpatriotisch. Der bekannte ägyptische Liberale Amr Hamzawy beschreibt die Atmosphäre bereits seit Wochen als faschistoid und warnt davor, dass Teile des derzeitigen Regimes den Schwung benutzten, um die ägyptische Revolution von 2011 ungeschehen zu machen.
Unter anderem dafür wird Hamzawy als „Verräter“ und „ausländischer Agent“ beschimpft. Vor allem gegen Politiker und Aktivisten, die Mursi und das Militär gleichermaßen kritisieren, richtet sich eine regelrechte Pogromstimmung. Und selbst gegen Vizepräsident Mohammed ElBaradei wird gehetzt, weil er dafür plädiert, die Islamisten auch weiterhin an den politischen Prozessen zu beteiligen. Es sollen, twitterte Amr Hamzawy jüngst, all jene zum Schweigen gebracht werden, die eine wirkliche Demokratisierung fordern.
Der 25. Januar 2011, der Tag, an dem die Revolution begann, war nicht zufällig der jährliche Ehrentag der ägyptischen Polizei. Von aller Willkür, die die Ägypter zornig machte, war es besonders die brutale Polizeiwillkür, unter der sie litten. Im Sommer 2013, nur zweieinhalb Jahre später, tragen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz Polizisten auf den Schultern und feiern sie. Einer der Sprechchöre lautet: „Volk, Militär und Polizei Hand in Hand.“
Um solch einen dramatischen Richtungswechsel hinzukriegen, mussten die Generäle das Volk auf das Böse schlechthin einschwören. Die Muslimbruderschaft eignet sich hervorragend für diese Rolle.
Jürgen Stryjak
© Qantara.de 2013
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de