"Weltgeschichte ist Geschichtsschreibung gegen den Strich"

Die Rolle, die der Nahe Osten in den beiden Weltkriegen gespielt hat, ist bis heute nur wenig erforscht. Das Berliner "Zentrum Moderner Orient" versucht daher seit langem, diese Lücken in der Geschichtsschreibung auszufüllen. Von Sonja Hegasy

Die Rolle, die der Nahe Osten in den beiden Weltkriegen gespielt hat, ist bis heute nur wenig erforscht. Das Berliner "Zentrum Moderner Orient" versucht daher seit langem, diese Lücken in der Geschichtsschreibung auszufüllen. Von Sonja Hegasy

Der Mufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini; Foto: KPA
Aktiv für die Propaganda des NS-Regimes: Mohammed Amin al-Husseini, der Mufti von Jerusalem, kollaborierte offen mit den Nationalsozialisten.

​​ 2009 jährt sich der Beginn des Zweiten Weltkriegs zum siebzigsten Mal. Und noch immer gibt es im Forschungsfeld zu der freiwilligen wie auch der erzwungenen Kollaboration in aller Welt mit deutschen Nationalsozialisten weiße Flecken.

Auch die Erinnerung an außereuropäische Opfer des NS-Terrors spielt im Geschichtsdiskurs nur eine marginale Rolle - deutsche Schulen hat das Thema noch gar nicht erreicht.

Am Berliner Zentrum Moderner Orient (ZMO) gibt es allerdings seit der Gründung des Instituts 1995 zahlreiche Forschungsprojekte zu Kollaborateuren, Zwangsrekrutierten und zu den Opfern außerhalb Europas - nicht nur im Zweiten, sondern auch im Ersten Weltkrieg.

Im Mittelpunkt dieser Forschung stehen Menschen und Ideen - das heißt auch Ideologien -, die zwischen den Weltregionen wanderten und sich dabei natürlich auch veränderten.

Interesse an transnationalen Forschungsansätzen

"Weltgeschichte ist Geschichtsschreibung gegen den Strich", so der Historiker Jürgen Kocka. Er verweist insbesondere auf die jüngere Generation der Geschichtswissenschaft, die ein Interesse an transnationalen Forschungsansätzen habe.

Winston Churchill trifft indische Offiziere; Foto: AP
Einerseits wurde Großbritannien als Kolonialmacht abgelehnt, andererseits kämpften indische Soldaten in der britischen Armee. Hier trifft Premierminister Winston Churchill indische Offiziere in Teheran.

​​ Dies bedeutet auch, dass offene Fragen nicht allein aus deutscher Perspektive erschließbar sind: Aus nahöstlicher oder indischer Sicht war beispielsweise in den dreißiger Jahren nicht unbedingt die Frage nach der Rassenpolitik der Nationalsozialisten entscheidend für die Haltung zu Hitlers Regime. Bei vielen Protagonisten stand die Suche nach Verbündeten gegen die britische und französische Kolonialmacht im Vordergrund.

Eine Reihe von Arbeiten des ZMO untersuchen inzwischen anhand von Archivmaterialien, Memoiren, privaten Aufzeichnungen, Zeitungen und Zeitschriften arabische Reaktionen auf den Nationalsozialismus. Für das Ägypten der dreißiger Jahre sind die Arbeiten des Historikers Israel Gershoni von der Universität Tel Aviv herausragend. Soeben erschien sein Buch Confronting Fascism in Egypt: Dictatorship versus Democracy in the 1930s.

Eine in diesem Geschichtsfeld besonders prominente Gestalt war der Mufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini. Der Geistliche kollaborierte mit den Nazis. Seine Vita ist mittlerweile sehr gut erforscht und erschlossen. Der 2003 verstorbene Nahosthistoriker Gerhard Höpp listet in einem Überblicksbeitrag zur Forschung über den Mufti rund 140 Arbeiten von Mitte der sechziger Jahre bis Ende der neunziger Jahre auf.

Höpp selbst gab am ZMO eine wichtige Quellensammlung heraus, die die nationalsozialistischen Reden des Muftis wie auch Briefwechsel mit Hitler, Goebbels und anderen umfasst. Weit verstreute und oft schwer zugängliche Dokumente werden in dieser Edition verfügbar gemacht.

Begeisterung für Hitler im arabischen Raum

Im Vorwort plädierte Höpp insbesondere gegenüber arabischen Historikern dafür, sich mittels dieser Quellen mit dem Mufti von Jerusalem auseinanderzusetzen.

Materialsammlungen wie dieser verdanken wir es, dass die Mitverantwortung arabischer Kollaborateure für Verbrechen des NS-Regimes nicht in Vergessenheit gerät. Zustimmung zum Nationalsozialismus und eine bis heute anhaltende Hitler-Begeisterung im arabischen Raum sind eine Tatsache, die auch weiterhin der Forschung bedarf.

War bis 1945 eher eine Mehrheit oder eine Minderheit der Menschen im Nahen Osten für den Nationalsozialismus eingestellt? Diese Frage kann aufgrund der Forschungslücken und der schlecht dokumentierten Sachlage bezüglich des Großteils der Bevölkerung bisher nicht wissenschaftlich akkurat beantwortet werden.

Zu den wenigen systematischen Auswertungen gehören die Arbeiten von Gershoni, dessen Beitrag in dem ZMO-Sammelband "Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus" (Berlin 2004) auf Deutsch und Arabisch publiziert wurde.

Der Begriff "Begegnungen" soll dabei nicht verharmlosen, sondern die Breite der Erfahrungen arabischer Bürger, vom fanatischen Mittäter bis zum KZ-Häftling aus britischen und französischen Kolonien bzw. Mandatsgebieten, zusammenfassen. Beides hat es erwiesenermaßen gegeben.

Widerstand gegen den Faschismus

​​ In seiner 2007 erschienen Dissertation "Zwischen Achse und Mandatsmacht. Palästina und der Nationalsozialismus" analysiert der Historiker René Wildangel umfassend die antisemitische Einstellung des "Großmuftis von Jerusalem".

Einige seiner Zeitgenossen in Palästina kämpften aber auch mit der Mandatsmacht Großbritannien gegen die Deutschen in der Hoffnung, hierfür später ein unabhängiges Land zu bekommen. Viele bezogen also schon aus diesem Grund Position gegen Nationalsozialismus und Faschismus.

Insbesondere arabische Sozialisten jener Zeit wandten sich entschieden gegen die NS-Ideologie und -Praxis. Spätestens mit Mussolinis Drohung, Äthiopien zu erobern, wurde auch in anderen Ländern im Nahen und Mittleren Osten scharfe Kritik am expansionistischen Faschismus und seinem imperialistischen Streben nach "neuem Lebensraum" laut. Auch dieser historische Abschnitt ist bisher weitgehend unerforscht.

Sympathien für Deutsche im Iran

In der neusten ZMO-Studie übersetzt und erläutert der Ethnologe Burkhard Ganzer den Augenzeugenbericht eines jungen Iraners über deutsche Spione in seinem Land.

1943 hielt sich dort eine Gruppe von Agenten als Gäste bzw. Schutzbefohlene auf, die der junge Ata Taheri betreute, bis sie den Briten ausgeliefert wurde. Sympathien für Deutsche waren seinerzeit im Iran weit verbreitet, wie Burkhard Ganzer feststellt. Bislang war diese Begegnung in erster Linie aus den Erinnerungen des Abwehr-Majors Schulze-Holthus bekannt.

Zugänge zu komplementären Ansichten, die die Wahrnehmung der anderen Seite darstellen, gehören zu den zentralen Ansätzen einer Weltgeschichtsschreibung. Ansonsten kreist die Geschichtsschreibung nur um ihr nationales Selbst.

Die am ZMO entstandenen Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie die komplexen Beweggründe außereuropäischer Akteure erforschen - eindimensionale Arbeiten gibt es schon genug.

Sonja Hegasy

© Qantara.de 2009

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