Eine Frage der Interpretation
Die Al-Azhar in Kairo ist die bedeutendste Institution des sunnitischen Islams weltweit. Sie kann auf eine lange Tradition islamwissenschaftlicher Forschung und Lehre zurückblicken. Darüber hinaus ist sie gemäß Artikel sieben der ägyptischen Verfassung "die grundlegende Instanz in theologischen Fragen und in allen den Islam betreffenden Angelegenheiten. Ihr obliegt die Verbreitung des Glaubens, der islamischen Wissenschaften und der arabischen Sprache in Ägypten und weltweit." Dies hat zur Folge, dass alles, was im Guten wie im Schlechten mit dem Islam zu tun hat, auch mit der Al-Azhar assoziiert wird – entweder direkt, wie im Falle Ägyptens, oder indirekt.
Der Umgang mit diesen Fragestellungen zeigt deutlich, wie schwierig es ist, Theorie und Praxis miteinander in Einklang zu bringen beziehungsweise zwischen beiden zu differenzieren: zwischen dem Islam als Glaubensbekenntnis und den Muslimen, die jene Glaubenslehre praktizieren; zwischen der Al-Azhar als idealtypischer Einrichtung zur Erforschung, Lehre und Propagierung der religiösen Wissenschaften und den am zeitlichen Kontext orientierten Ansätzen azharitischer Gelehrter, jenes Ideal in die Praxis umzusetzen.
Fehlende präzise Begriffsbestimmung
Ursache für diese Abgrenzungsschwierigkeiten ist aus meiner Sicht, dass es bislang an einer präzisen Begriffsbestimmung in Bezug auf den Islam und die Al-Azhar fehlt – auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, dass solche Begriffe selbsterklärend sind.
Will man also zu einem fundierten Urteil über den Zusammenhang von Islam und Terrorismus gelangen, bedarf es zunächst einer eindeutigen Definition. Der Islam, wie ich ihn verstehe, besteht aus mehreren Komponenten: Seine wichtigste theologische Säule ist der heilige Koran als sakraler Offenbarungstext. Ergänzt wird er durch eine als die Sunna bezeichnete Sammlung von Handlungsanweisungen, die auf das Vorbild des Propheten zurückgehen. Sie erfüllen die Aussagen des Korans mit Leben und schlagen eine Brücke zur alltäglichen Praxis.
Hier stellt sich die wichtige Frage, wie die religiösen Texte im Laufe der Geschichte von den Muslimen in die Praxis umgesetzt wurden. Sind diese Erfahrungen als integraler Bestandteil des Islams zu betrachten oder nicht? Wer diese Frage mit nein beantwortet, ist in der glücklichen Lage, jedwede Verbindung zwischen dem Islam und allem, was Muslime im Laufe der Geschichte an Untaten begangen haben, kategorisch negieren zu können. Dies schließt insbesondere auch die blutigen innerislamischen Glaubenskriege mit ein, die selbst vor dem wichtigsten Symbol des Islams, der Kaaba in Mekka, nicht halt gemacht haben.
Schwierige Abgrenzung zwischen Text und Interpretation
Doch gleichzeitig vergibt man damit die Chance, sich auf Handlungen herausragender Vertreter der islamischen Geschichte zu berufen, in denen sich Gerechtigkeit, Weisheit und Barmherzigkeit manifestiert haben. Welcher Muslim würde sich nicht positiv auf die Predigt beziehen, die der erste Kalif Abu Bakr hielt, als er die Nachfolge Mohammeds antrat? Und würde in ihr nicht einen Beweis dafür sehen, dass der Islam einen maßgeblichen Grundstein für die Menschenrechte gelegt hat? Dies nur als eines von zahlreichen Beispielen für die Toleranz des Islams.
Wer die Frage dagegen mit ja beantwortet, akzeptiert damit alles, was Muslime jemals an Gutem und Schlechtem getan haben, grundsätzlich als Teil des Islams. Abhängig von der individuellen Prägung sowie des psychologischen und intellektuellen Werdegangs wird man eher diesen oder jenen Aspekt als repräsentativ für den Islam ansehen. Wissenschaftliche Objektivität und historische Erfahrung lehren uns, dass alles, worauf sich die Apologeten einer islamischen Toleranz berufen, einen wahren Kern hat; ebenso aber auch das, worauf sich die Anhänger des IS berufen. Aus historischer Sicht wäre es nur schwer zu rechtfertigen, eine der beiden Seiten auszublenden.
Wissenschaftlich betrachtet ist die Abgrenzung zwischen dem Text und dem, was seine Interpreten daraus machen, problematisch. Der Text spricht nicht für sich und setzt sich nicht selbst in die Praxis um, sondern der Mensch tut dies gemäß seinem Verständnis.
Vom vierten Kalifen Ali ist ein berühmter Ausspruch überliefert, der exemplarisch für einen solchen interpretationsbasierten Ansatz steht: "Der Koran ist eine Schrift zwischen zwei Buchdeckeln, die nicht spricht; es sind die Menschen, die mittels seiner sprechen." Das bedeutet, der Text ist nicht herabgekommen, um isoliert von der Realität zu existieren. Vielmehr tritt er in eine Interaktion mit ihr, wobei dem Menschen die Vermittlerrolle zukommt. Je stärker bei diesem ein tolerantes Bewusstsein heranreift, desto mehr tritt auch die dem Text immanente Toleranz in Erscheinung. Und je weniger er sich der Würde und der Ebenbürtigkeit aller Menschen ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit bewusst ist, desto einseitiger und intoleranter wird sein Verständnis des Textes sein.
So wird ein Terrorist den Dschihad als einen religiös motivierten Krieg begreifen. Und die im Koran vorgeschriebene Bekämpfung der fitna, also der "Zwietracht" innerhalb der islamischen Gemeinde, wird er in einen Kampf gegen die Ungläubigen umdeuten. Derlei Interpretationen finden sich – in der Textexegese wie in der Praxis – auch bei den anderen monotheistischen Buchreligionen.
Dass Islam und Terrorismus in einem Atemzug genannt werden, ist der Tatsache geschuldet, dass man mit ihm meist nur diejenigen Muslime assoziiert, die Terror praktizieren, wie etwa die Anhänger des IS und ähnlicher Gruppierungen. Begünstigt wird dies nicht zuletzt dadurch, dass solche Gruppierungen sich auf die sakralen Schriften des Islams wie auch auf die Praxis von Muslimen im Laufe der Geschichte berufen.
Den Taten des IS jeden Bezug zum Islam abzusprechen, wird das Problem sicherlich nicht aus der Welt schaffen. Erst müsste die Frage geklärt werden, in welcher Wechselwirkung der Islam (in seiner im Koran fixierten Form) und die Muslime stehen, die daraus gemäß ihrem individuellen Verständnis eine alltagstaugliche Praxis ableiten. Und die Al-Azhar ihrerseits müsste in ihren Lehrplänen eine Verknüpfung von Koranexegese mit sozialanthropologischen Ansätzen festschreiben.
Erst durch eine solche ließe sich die – mal tolerante mal intolerante – Lesart des Korans aus ihrem jeweiligen historischen Kontext heraus verstehen, ließe sich herausarbeiten, dass der Terrorismus primär ein vom Menschen gemachtes Problem ist, nicht ein dem Koran immanentes; dass es sich dabei also um ein im wissenschaftlichen, kulturellen und sozio-ökonomischen Sinne menschliches Konstrukt handelt. Eine solche Herangehensweise wäre nicht nur Aufgabe der Al-Azhar, sondern der Gesellschaft insgesamt.
Die Etablierung einer historisch basierten Lesart der Glaubensinhalte und ihrer praktischen Umsetzung wäre ein möglicher Lösungsansatz für die notorischen Kontroversen um die Al-Azhar und ihre historische Rolle. Es steht außer Frage, dass die Al-Azhar über die Jahrhunderte hinweg eine tragende Rolle bei der Tradierung der religiösen Wissenschaften wie auch bei der Bewahrung der arabischen Sprache gespielt hat, nicht zuletzt während der Kolonialzeit.
Zwischen klischeeartiger Kritik und bedingungsloser Gefolgschaft
Diese stolze Vergangenheit sollte uns jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass außer der Al-Azhar kein anderes Bildungssystem existierte und somit auch kein Vergleich möglich ist. Erst mit der Einführung eines staatlichen Schulwesens durch Mohammed Ali im 19. Jahrhundert entstanden in Ägypten zwei parallele Bildungssysteme. Davon war und ist das azharitische System bis heute das rückwärtsgewandtere und hermetischere, wie aufgeklärte Vertreter der Al-Azhar selbst einräumen.
Ein flüchtiger Blick auf Leben und Werk des berühmten ägyptischen Reformtheologen Mohammed Abduh genügt, um jenen Befund zu bestätigen. Dieser wurde nicht müde, die Lehrpläne und ihre Rückwärtsgewandtheit zu kritisieren, und zahlreiche andere Gelehrte innerhalb der Al-Azhar haben es ihm gleich getan.
Ich habe unter Studierenden derjenigen Al-Azhar-Fakultät, von der es heißt, sie sei die aufgeschlossenste, eine Umfrage durchgeführt, deren Ziel es war herauszufinden, wie sie zu der traditionellen Praxis stehen, unterworfene Bevölkerungsgruppen vor die Wahl zwischen drei Optionen zu stellen: zum Islam zu konvertieren, die Kopfsteuer zu entrichten oder gewaltsam bekämpft zu werden.
Konkret lautete meine Frage: "Was wäre, wenn Ägypten plötzlich zu einer Großmacht würde, die sich quantitativ und qualitativ auf Augenhöhe mit den USA befände?" Die überwältigende Mehrheit antwortete, in einem solchen Fall müssten "wir" den Islam propagieren und verbreiten. Daraufhin fragte ich weiter: "Und was, wenn die anderen es ablehnen würden, den Islam anzunehmen?" Dann, so die Studierenden, müssten sie der Kopfsteuer unterworfen werden. Sollten sie sich dieser verweigern, würden "wir" sie bekämpfen müssen.
Da möchte man sich doch fragen, worin eigentlich der Unterschied zwischen der Mentalität jener Studierenden und der IS-Ideologie besteht. Ist dieser Unterschied etwa nur gradueller Natur und spricht der IS lediglich das aus, was im Unterbewusstsein der Mehrheit der Muslime schlummert? Wenn dem so ist, dann stehen wir vor einem ernsten Problem, das wir nicht einfach so aus der Welt schaffen, indem wir den Kopf in den Sand stecken.
Es muss differenziert werden zwischen der notwendigen Verteidigung einer Institution, der wir Liebe und Ehrfurcht entgegen bringen und deren Verdienste wir anerkennen, und der ebenso notwendigen Diagnose eines zivilisatorischen Rückschritts, der ganz Ägypten mit Blindheit geschlagen hat und von dem die Al-Azhar Teil ist.
Die Folgen des wissenschaftlichen Niedergangs
Es würde ihr keineswegs zum Nachteil gereichen, ihren wissenschaftlichen Niedergang einzugestehen, der sich in der Folge des allgemeinen materiellen und geistigen Niedergangs Ägyptens ereignet hat, und die Krankheit sowie ihre Ursachen klipp und klar zu benennen. Denn wenn die Al-Azhar krank ist, welche andere Bildungseinrichtung in Ägypten ist dann überhaupt in guter Verfassung? Letztendlich sind sie doch alle vom selben Übel befallen, höchstens vielleicht mit graduellen, aber nicht mit kategorischen Unterschieden.
Für mich stehen die schwarz-weiß-malerischen Attacken gegen die Al-Azhar auf derselben Stufe wie die bedingungslose Gefolgschaft ihr gegenüber. In beiden Fällen überwiegen Emotionen gegenüber rationalem Denken, ja vielleicht auch materielles Kalkül gegenüber Lösungswillen. Die Muslime müssen sich bewusst werden, dass sie eine Verantwortung für das Bild des Islams tragen. Ob der Islam mit Terrorismus assoziiert wird oder nicht, hängt allein von ihrem Verhalten, ihrer zivilisatorischen Reife und ihrem Beitrag zur Wissenskultur ab.
Die Al-Azhar muss erkennen, dass der Terrorismus durchaus mit kulturellem, materiellem, gesellschaftlichem und politischem Niedergang sowie dem Fehlen von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit zusammenhängt, dass aber eben auch die Ansätze und Methoden, den Koran zu interpretieren und ihn zu lehren, ihren Anteil daran haben. Auch wenn die Al-Azhar für den erstgenannten Aspekt nicht verantwortlich sein dürfte, so ist sie es ganz sicher maßgeblich für den letztgenannten.
Assem Hefny
© Qantara.de 2017
Übersetzt aus dem Arabischen von Rafael Sanchez