Die vielen Gesichter der Armut
Abseits der schmucken Badeorte mit ihren herausgeputzten Souks weicht die romantische Verklärung schnell der harten Realität. Marokko zeigt hier ein anderes Gesicht: das Gesicht der Armut. Vielerorts begegnet man Mittellosigkeit, Bedürftigkeit und Elend in dem westlichsten der arabischen Länder, obwohl die gut ausgebaute Infrastruktur zunächst darüber hinwegtäuschen könnte. Bittere Armut koexistiert in unmittelbarer Nachbarschaft zu üppigem Reichtum und leichtfertiger Verschwendung.
Beim Blick aus dem Zug, einem der modernsten auf dem ganzen afrikanischen Kontinent, fallen Baracken aus Wellblech und Plastikplanen ins Auge, die sich die Bahngleise entlang spannen von Marrakesch im Süden bis Tanger im Norden. Ganze Barackenstädte, die sogenannten "Bidonvilles", durchziehen die großen Metropolen wie Casablanca oder Rabat und wuchern überall, zwischen den Siedlungen gutbürgerlicher Wohnviertel, auf den Dächern der Altstadthäuser – selbst vor noblen Prachtbauten wie der marmornen Hassan II. Moschee machen die Slums nicht Halt, sondern siedeln sich einfach daneben an. Genau genommen waren sie sogar zuerst da.
Der "König der Armen" ist selbst einer der Reichsten
Auch im zahnlosen Lachen der über 30-Jährigen kann einem die Armut jederzeit begegnen, denn Gesundheit ist eine teure Angelegenheit in Marokko, die sich nicht jeder leisten kann. Doch nicht nur Zähne sind Luxus, das gleiche gilt für Bildung, Unterkunft, Arbeit – ja sogar für den Zugang zu Wasser, Nahrung und Elektrizität. Ein Fünftel der marokkanischen Bevölkerung lebt unter oder an der Armutsgrenze, das sind laut Informationen des CIA Worldfactbook und der Weltbank 6,3 Millionen Menschen, denen diese überlebenswichtigen Güter fehlen.
2011 nahm sich der König persönlich der hohen Kosten all dieser Güter an und versprach, im Rahmen einer Verfassungsreform den Zugang zu ihnen zu erleichtern. Nicht erst seit dieser Zeit gilt Mohammed VI., im Volksmund kurz M6 genannt, den Marokkanern als "König der Armen". Schon bei seiner Krönung im Jahr 1999 ließ er sich gerne so nennen. Seinem wohlgepflegten Image als Armenkönig tut es dabei bisher keinen Abbruch, dass er tatsächlich einer der reichsten Könige der Welt ist (laut Forbes mit einem geschätzten Privatvermögen von zwei Milliarden US-Dollar im Jahr 2007.
Kritiker würden ihn daher weniger als "König für die Armen“ verstanden wissen wollen, sondern vielmehr als "Verantwortlichen für die Armut". So resümierte beispielsweise vor Kurzem der regimekritische Schriftsteller Abdellatif Laâbi, der König führe das Land "wie einen multinationalen Konzern, dessen Ziel es ist, die Aktionäre reicher zu machen".
Für Laâbis Thesen sprechen auch die Enthüllungen eines 2012 erschienenen Buches mit dem Titel Le Roi prédateur – "der Plünderkönig". Die Autoren Catherine Graciet und Eric Laurent gelangen hierin zu dem erschütternden Fazit, dass der König und sein Umfeld sich mit nahezu mafiösen Methoden an der marokkanischen Volkswirtschaft bereicherten und sich dabei nicht sonderlich um das Gemeinwohl scherten. Das Buch schien offenbar einen empfindlichen Nerv des Königshauses getroffen zu haben, denn in Marokko ist es seit dem Erscheinen verboten.
Armutsbekämpfung als Gunst des "Makhzen"
Obwohl von staatlicher Seite tatsächlich einige Mittel in die Armutsbekämpfung investiert und auch Fortschritte erzielt wurden, wird immer wieder beklagt, dass sich für die Mehrheit der armen Bevölkerung bisher kaum etwas geändert habe. Ein Blick auf die königliche Verfassungsreform von 2011 macht deutlich, dass Armut auch juristisch ein grundsätzliches und tiefergehendes Problem in Marokko darstellt und es entsprechender Lösungsansätze bedürfte, die nicht nur die Symptome bekämpfen. Um möglichen Umbrüchen wie in anderen Staaten des Arabischen Frühlings vorzubeugen, wurde im Jahr 2011 eine Reform zur Stabilisierung des Landes im Eiltempo von gerade einmal vier Monaten umgesetzt.
Seitdem finden soziale Rechte – etwa auf Gesundheit, Sozialversicherung, (Aus-)Bildung oder angemessenes Wohnen – in der Verfassung zumindest Erwähnung. Marokkanische Bürger müssen jedoch weiterhin darauf hoffen, dass eine gute Regierungsführung tatsächlich auf die Verwirklichung ihrer Grundrechte abzielt. So wurde zwar ein Wirtschafts- und Sozialrat eingesetzt, ferner wurden die staatlichen Subventionen für Grundnahrungsmittel und Kochgas erhöht. Garantiert werden diese Grundrechte von der Verfassung allerdings nicht. Und dies bedeutet, dass sie auch nicht eingeklagt werden können.
Dies hat zur Folge, dass die alten Abhängigkeiten der einfachen Bevölkerung vom Wohlwollen des "Makhzen", der privilegierten königstreuen Elite, weiterhin bestehen bleiben. Und auch das Schmiermittel, das das System am Laufen hält: die alle Institutionen durchdringende Korruption.
Die soziale Kluft wird damit nicht geringer, sondern größer. Zu dieser Einschätzung kommt auch die Weltbank in einem Bericht vom März 2014. Darin wird beanstandet, dass die Ungleichheit in Bezug auf Einkommen und Zugang zu Grundbedarfsgütern in Marokko besonders hoch ist (beim sogenannten "Gini-Koeffizienten", der die Ungleichverteilung innerhalb eines Landes bemisst – der Wert liegt zwischen 0 als absoluter Gleichheit und 1 als absoluter Ungleichheit –, liegt Marokko mit einem Index von geschätzten 0,41 im Jahr 2007 sogar noch hinter den subsaharischen Staaten Mali, Burkina Faso oder Tschad).
Flucht aus dem Teufelskreis der Armut
Eklatant sind die Unterschiede zwischen den großen Städten und ihren Peripherien. In abgelegeneren ländlichen Regionen konzentrieren sich zwei Drittel der Armen. Die Landbevölkerung hat gleich mit mehreren Herausforderungen zu kämpfen: Durch die schlechte Infrastruktur sind weite Teile der ruralen Gebiete nicht ausreichend mit Wasser und Elektrizität versorgt, die Wege zu Gemeinschaftsbrunnen sind weit. Die landwirtschaftliche Produktion steht und fällt mit dem Wasser und so auch die Entscheidung über Armut oder Reichtum.
Dies hat Konsequenzen für das ganze Land, denn die Agrikultur zählt zu den Grundpfeilern der marokkanischen Wirtschaft mit rund 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Hinzu kommt, dass das Verkehrsnetz ungenügend ausgebaut ist, was vielen marokkanischen Kindern die Erreichbarkeit der Schulen erschwert.
Der schlechte Zugang zu Schulen und Ausbildungsstätten erklärt auch die hohe Analphabetenrate in den ländlichen Regionen Marokkos, die um ein vielfaches höher ist als in den urbanen Zentren. In Marrakesch etwa lag sie laut marokkanischem Statistikamt HCP ("Haut Commissariat au Plan") 2004 bei 32 Prozent, in der Provinz um Marrakesch hingegen mit 66 Prozent mehr als doppelt so hoch. Übermäßig betroffen sind dabei Frauen auf dem Land, so können im Jahr 2012 in der südlich von Marrakesch im Atlas liegenden Provinz Al Haouz 72 Prozent von ihnen weder lesen noch schreiben.
Dem Teufelskreis der Armut lässt sich nur schwer entkommen: Infrastrukturelle Schwierigkeiten, die den Zugang zu Bildung erschweren, verstärken die Bildungsunterschiede, die wiederum für Armut verantwortlich sind. Durch den Wassermangel werden die von der landwirtschaftlich gefährdeten Regionen noch ärmer. Hinzu kommt der sogenannte "Exodus der Jungen". Sie sehen oftmals nur einen einzigen Ausweg aus der Misere: woanders das Glück versuchen, in einer großen Stadt.
Slumbildung als Folge der Urbanisierung
Doch auch in den großen Städten erwartet die Neuankömmlinge nicht das erhoffte Paradies, vor allem nicht, wenn sie schlecht ausgebildet sind. Die Jugendarbeitslosigkeit in den Metropolen erreicht laut Weltbank Werte von bis zu 35 Prozent. Die immense Urbanisierung, die ganz Afrika seit Jahren erlebt, führt zum Wildwuchs beim Wohnungsbau und zu Obdachlosigkeit.
Auch dieses Problem geht die marokkanische Politik nicht wirklich an, zumal sie nur die Symptome, nicht aber die Ursachen bekämpft. Seit zehn Jahren gibt es das Programm "Villes sans Bidonvilles" ("Städte ohne Slums"), das darauf angelegt ist, durch staatlich finanzierten sozialen Wohnungsbau Ersatz zu schaffen. Über die Köpfe der Menschen hinweg wurde entschieden, die riesigen Slums nach und nach zu räumen und abzureißen. Die Bewohner der Bidonvilles wollen aber trotz der widrigen Lebensbedingungen nicht einfach aus ihren sozialen Strukturen gerissen und umgesiedelt werden. Viele leisten erbitterten Widerstand, so zuletzt im vergangenen Juni bei der Räumung des größten Slums im Herzen von Casablanca, dem "Kariane central".
Susanne Kaiser
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