Im Schatten des Übervaters

Der ägyptische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfuz hat große Romane, wie die "Die Midaq-Gasse" und "Die Kinder unseres Viertels" geschrieben. Doch was bleibt nach der Ära des "Pharaos der Literatur"? Antworten von Samir Grees

الكاتبة ، الكاتب: Samir Grees

 

Naguib Mahfuz-Denkmal am Nilufer in Kairo; Foto: Wikipedia
"Literatur-Riese und Romancier von internationalem Format": Der am 11. Dezember 1911 in Kairo geborene Mahfuz erlangte vor allem mit seinen Romanen "Die Midaq-Gasse", "Hausboot am Nil" und "Die Kinder unseres Viertels" weltweites Ansehen.

​​ Am 11.12. 1911 wurde der Nobelpreisträger Nagib Mahfuz geboren. Dies nimmt die ägyptische Hauptstadt, die Mahfuz in seinen Werken wie kein zweiter literarisch verewigt hat, zum Anlass, ihn und sein literarisches Erbe zu würdigen. Das Jahr 2011 hat man deshalb zum Mahfuz-Jahr erklärt. Die Feierlichkeiten in Ägypten wurden Mitte Dezember 2010 mit einer Veranstaltung in Kairo eröffnet, die sich der Frage widmete: Wie kann man Romane im Schatten eines solchen "Literatur-Riesen" schreiben? War Mahfuz mit seinen großen literarischen Leistungen womöglich ein Hindernis auf dem Weg der Entwicklung des arabischen Romans? Diese Frage stellte eigentlich der ägyptische Kritiker Ragaa' al-Naqqash Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Damals war der Schriftsteller der "Kairoer Trilogie" so einflussreich, dass diese Frage berechtigt erschien.

Drohende Stagnation nach der Ära Mahfuz?

Mahfuz schien geeignete Formen für den modernen arabischen Roman gefunden zu haben, sein Werk war sowohl bei Lesern als auch bei Kritikern sehr geschätzt, was ja andere Schriftsteller, vor allem jüngere, daran gehindert haben könnte, neue Wege zu gehen. Al-Naqqash prophezeite eine Phase der Stagnation in der arabischen Literatur nach Mahfuz, so wie es in England nach Dickens, in Frankreich nach Balzac und in Russland nach Dostojewski der Fall gewesen war. Der große alte Meister der ägyptischen Literatur, Edwar al-Charrat (1926), vertritt jedoch eine andere Meinung. Al-Charrat, dessen Romane in mehrere Sprachen, auch ins Deutsche, übersetzt worden sind, glaubt, dass die "Entwicklung des arabischen Romans nicht von einer einzigen Person abhängt – unabhängig davon, wie groß sein kultureller Beitrag auch sein kann". Der Beitrag Mahfuz' war nicht nur groß, meint dagegen der libanesische Dichter und Kritiker Abbas Beydoun: "Nagib Mahfuz war der eigentliche Begründer des arabischen Romans." Und er war "ein Romancier vom internationalen Format", sein Einfluss habe auch das Werk der jüngeren Schriftsteller geprägt, die ihm viel verdankten, fügt Beydoun hinzu.

Literarische Rebellion gegen Mahfuz

Edwar al-Charrat; Foto: DW
Glaubt, dass die Entwicklung des arabischen Romans nicht von einer einzigen Person abhängt – unabhängig davon, wie groß sein kultureller Beitrag auch sein mag: der ägyptische Schriftsteller Edwar al-Charrat.

​​Das sieht der jordanische Schriftsteller Elias Farkouh ähnlich. Es sei schwierig gewesen, im Schatten des mächtigen Mahfuz neue Schreibformen auszuprobieren. Erst Ende der 1960er Jahre hätten junge Schriftsteller es gewagt, "gegen Mahfuz literarisch zu rebellieren". Einer von ihnen ist Youssof al-Qaid, der zu den bekanntesten Schriftstellern der 60er-Jahre-Generation gehört. Obwohl al-Qaid dem viel älteren Mahfuz sehr nahe stand und ihn sehr schätzte, entwickelte er eine andere Form des Romans und vertrat andere politische Ansichten. Zudem stellen Al-Qaids Romane meistens das Leben der einfachen Menschen im Nildelta dar, während Mahfuz' Interesse allein der Metropole Kairo und seiner Mittelschicht galt. "Ich ließ mich von ihm literarisch nicht beeinflussen, jedoch menschlich", sagt al-Qaid und fügt hinzu: "Mich hat sein Zeitmanagement tief beeindruckt" – Mahfuz hat die meisten seiner großen Werke noch während seines Beamtenlebens geschrieben. Aufgrund einer Augenkrankheit konnte er zudem die Hälfte des Jahres nicht schreiben. So musste er seine Zeit im Herbst und Winter penibel zwischen seiner Arbeit im Kulturministerium und dem Schreiben teilen.

Offenheit gegenüber jüngeren Schriftstellern

Al-Qaid verweist auch auf andere Kollegen der 60er-Jahre-Generation, wie Gamal al-Ghitani, Sonallah Ibrahim und Ibrahim Aslan, die alle ihren eigenen literarischen Weg unabhängig von Mahfuz gefunden hätten. Al-Qaid, der Mahfuz damals mit anderen jungen Schriftstellern wöchentlich im Kairoer Café Riche im Zentrum von Kairo traf, betont außerdem, dass Mahfuz bis 1994 eifrig die Werke jüngerer Schriftsteller verfolgt habe. In jenem Jahr versuchte ein Fanatiker, den damals 83jährigen Nobelpreisträger zu erstechen, da viele Islamisten Mahfuz' Roman "Die Kinder unseres Viertels" als Gotteslästerung betrachten. In diesem Parabel-Roman lässt Mahfuz Figuren auftreten, die an Gott, Adam, Moses, Jesus und Muhammad erinnern, weshalb der Roman in Ägypten jahrzehntelang verboten war, und dort erst 2006 erschien, nachdem er bereits in viele Sprachen übersetzt worden war. Al-Qaid erinnert sich an die Freitagstreffen mit Mahfuz und sagt: "Wir gaben ihm damals immer unsere Texte. Am folgenden Freitag gab er sie uns dann zurück und sagte uns offen seine Meinung dazu". Auch der Erzähler Said al-Kafrawi ging regelmäßig zu dem Treffen in Café Riche. "Im Winter trafen wir uns nur freitags, im Sommer täglich." Al-Kafrawi erinnert sich, wie herzlich Mahfuz ihn empfing, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war. Sehr aufmerksam habe er zugehört, als al-Kafrawi von seiner politischen Haftzeit in der Ära Gamal Abdel-Nassers erzählte. 1974, vier Jahre nach Nassers Tod, erschien Mahfuz' Roman "Karnak-Café", der von den Gräueltaten des Polizeistaats unter Nasser handelt. Als Mahfuz den jungen Erzähler im Café Riche wieder sah, sagte er ihm: "Said, du bist eine der Figuren dieses Romans."

Mahfuz heute

Muntassir al-Qaffash, Mekkawy Said, und Mansoura Ez-Eldin sind junge erfolgreiche Romanciers in Ägypten. Ihre Werke wurden mit Literaturpreisen ausgezeichnet und in mehrere europäische Sprachen übersetzt.

Mansoura Ezzedin; Foto: Axel von Ernst
"Die Präsenz eines so großen Schriftstellers wie Mahfuz stellt einen Ansporn für die Weiterentwicklung des arabischen Romans dar, und nicht umgekehrt", meint die ägyptische Schriftstellerin Mansoura Ez-Eldin.

​​Als sie in den 1990er Jahren anfingen zu schreiben, war der 1988 mit dem Nobelpreis für Literatur gewürdigte Mahfuz mehr eine Ikone als ein Hindernis. "Unsere Generation", sagt al-Qaffash, "schätzte die literarischen Leistungen Mahfuz'". Es sei jedoch eine Herausforderung für ihn und seine Kollegen gewesen, "Neuland zu entdecken". Auch die 36jährige Mansoura Ezzeddin teilt diese Meinung. Sie schätze aber gerade die Experimentierfreude von Mahfuz, der immer wieder neue Formen erprobt habe. "Die Präsenz eines so großen Schriftstellers wie Mahfuz stellt einen Ansporn für die Weiterentwicklung des arabischen Romans dar, und nicht umgekehrt."

Was bleibt?

Der "Pharao der Literatur" ("Die Zeit") hinterließ ein umfangreiches Werk: 55 Romane und Erzählbände. Manche von ihnen sind gewiss verstaubt, doch viele sind heute noch immer aktuell und lesenswert. Mehr als zwanzig Romane von Nagib Mahfuz wurden inzwischen ins Deutsche übersetzt, mehr noch ins Englische und Französische. Und einige seiner Werke würden ganz bestimmt der Zeit trotzen, so der marokkanische Dichter und Kritiker Hassan Najmi. Er empfiehlt jungen Lesern vor allem die Werke der sogenannten realistischen Epoche, wie "Die Midaq-Gasse" und die Kairoer Trilogie ("Zwischen den Palästen", "Palast der Sehnsucht" und "Zuckergässchen"). Youssouf al-Qaid und Said al-Kafrawi empfehlen vor allem das Spätwerk Mahfuz': "Das Lied der Bettler", "Echo meines Lebens" und "Das Buch der Träume". "Das sind Werke", sagt al-Kafrawi, "die auf verborgene Weise einen Blick in die Zukunft tun. Sie sind eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Tod".

Samir Grees

© Qantara.de 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Redaktion Qantara.de

Samir Grees hat Germanistik in Kairo und Übersetzungswissenschaft in Mainz studiert. Er arbeitet als freier Journalist und Übersetzer. Grees hat zahlreiche Werke deutscher Literatur ins Arabische übertragen, u.a. "Ein liebender Mann" von Martin Walser, "Die Klavierspielerin" von Elfriede Jelinek und "Simple Storys" von Ingo Schulze.