Der Widerstand der jungen Kreativen

Frauen und Männer tragen Fackeln (Foto: picture alliance / Middle East Images | Anthony Pizzoferrato)
In Armenien wird jedes Jahr am 24. April des Genozids gedacht – Jerewan am Vorabend des Gedenktags letztes Jahr (Foto: picture alliance / Middle East Images | A. Pizzoferrato)

Zum Jahrestag des Völkermords an den Armenier*innen von 1915 findet in Berlin das Festival „100 + 10 – Armenian Allegories“ statt. Armenische Kulturschaffende suchen dabei nach Perspektiven jenseits von Opfernarrativen.

الكاتبة ، الكاتب: جيداء نورتش

„An der Welt mit Liebe rächen“ – dieser Ausspruch des armenischen Filmregisseurs Sergei Paradschanow ist das Motto des Festivals „100 + 10 – Armenian Allegories“, das das Berliner Maxim-Gorki-Theater organisiert. Ende April findet das Festival mittlerweile zum zehnten Mal statt, dieses Jahr anlässlich des 110. Jahrestags des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915.  

„Es schneit im April“ war der Name der Veranstaltungsreihe, die das Gorki vor zehn Jahren durchführte, zum hundertsten Jahrestag von aghet, der Katastrophe, wie Armenier*innen den Völkermord 1915 nennen. Damals standen die Ächtung des Massakers an der armenischen Bevölkerung und die Mitttäterschaft des deutschen Kaiserreichs im Fokus.  

Rund 1,5 Millionen Armenier*innen wurden im Ersten Weltkrieg Opfer systematischer Tötungen im Osmanischen Reich. Als dessen Rechtsnachfolgerin gibt die Türkei zwar Massaker an 300.000 bis 500.000 Menschen zu; die Einstufung als Völkermord weist sie aber zurück. 

Die diesjährige Veranstaltungsreihe „100 + 10 – Armenian Allegories“ stellt die Frage, wie armenische Künstler*innen aus der ganzen Welt vor dem Hintergrund ihres traumatischen Erbes mit den Verwerfungen der Gegenwart umgehen.  

Die Bandbreite der Themen, die sie dabei behandeln, ist umfassend: Sie reicht vom Umgang mit den Erinnerungen an 1915 bis zur „Samtenen Revolution“ in Armenien 2018, vom Konflikt um Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan bis zu Kim Kardashian. 

So zeigen vom 24. April bis 31. Mai Künstler*innen aus Armenien und der Diaspora in einem umfangreichen Programm, das aus einer Ausstellung, einer Literatur- und einer Filmreihe sowie aus Konzerten und Performances besteht, wie auch unter verheerenden Umständen Kunst entstehen kann. 

In der Kunstausstellung „Future Imperfekt“ etwa sind über 70 Werke zeitgenössischer armenischer Künstler*innen zu sehen. In der Literaturreihe „Meine Seele im Exil“ kommen armenische und diaspora-armenische mit Berliner Autor*innen in szenischen Einrichtungen, Lesungen und Gesprächen zusammen. 

Armeniens postsowjetische Generation

Der in Jerewan ansässige promovierte Kunsthistoriker Vigen Galstyan ist derzeit Kurator der Ausstellungen in der Nationalgalerie von Armeniern. Er hat das Konzept mit Gorki-Intendantin Shermin Langhoff und den anderen Kurator*innen erarbeitet. 

„Uns war es wichtig, den zyklischen Charakter von Ereignissen zu zeigen. Zu erörtern, in welchem Zusammenhang sie zueinanderstehen und wie sie die zeitgenössische armenische kulturelle Erfahrung und Identität formen“, erklärt Galstyan im Gespräch mit Qantara.  

Beim diesjährigen Festival kommen größtenteils Künstler*innen der jüngeren Generation zu Wort. Sie sind nicht mehr in der Sowjetunion, sondern in einem unabhängigen Armenien aufgewachsen. Ihre Werke verhandeln die Frage, wie sich, vor dem Hintergrund des traumatischen Erbes, Projektionen für eine eigene Zukunft entwerfen lassen.  

Ihre Kunstwerke sind individuelle Zugänge zu einem Narrativ, das über den Verlust, die Trauer in ihrer Geschichte hinausgeht. „Es sollte nicht nur um Opfer- und Überlebensnarrative, um Resilienz und ums Ertragen gehen“, erklärt Galstyan. Das spiegele auch den Wunsch seines Landes wider, das sich nach neuen Paradigmen sehne. 

Liebe gegen den Niedergang

So sind die Kunstwerke auch der Versuch, auf Zerstörung, Aggression, Hass und Gewalt konstruktiv zu reagieren. Krieg führe einem auch vor Augen, was im Leben wirklich zähle: Menschlichkeit und Empathie, so der Kunsthistoriker. Und nur die Rückbesinnung auf diese Qualitäten zeige, wofür es sich lohnt zu kämpfen, um sich dem Niedergang zu widersetzen.  

Sich auf diese Art durch Kunst untereinander und mit der Welt zu verbinden, sei der Widerstand der Kreativen, der Künstler*innen und Intellektuellen, sagt Galstyan. Nicht nur in Armenien, sondern weltweit.  

So rege etwa die Stickerei der Künstlerin Valentina Maz auf provokative Weise zum Denken an: Wie können wir uns der Hoffnungslosigkeit widersetzen? Was können wir als globale Gemeinschaft tun, um die Realität zu verändern? Wie kann, trotz Krieg und unsicherer Zukunft, jeder Tag ein neuer Tag voller intellektuelle Produktivität, Kreativität, Potential und nicht zuletzt Leben sein? 

Kreative Welle des armenischen Films

Für die Filmreihe „Keeping up the House“ hat Vigen Galstyan zwanzig Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme aus den vergangenen zehn, besonders aber den letzten fünf Jahren ausgewählt, die im Zuge der kreativen Welle des armenischen Films entstanden sind. Im Zentrum stehen dabei weibliche Perspektiven etwa auf die ethnische Säuberung im Bergkarabach-Konflikt oder den Umgang mit dem postsowjetischen Erbe. 

Dagegen behandelt der Film „Erinnerungen des Windes“ des türkischen Regisseurs Özcan Alper über den Schriftsteller Aram – einen armenischen Dissidenten, der im Zweiten Weltkrieg vor der türkischen Regierung aus Istanbul Richtung Georgien floh – das zyklische Widerkehren unaufgelöster Traumata und die Frage, wie traumatische Geschichte unsere moderne Identität formt.  

Von dem Festival erhofft sich Galstyan, dass die Besucher*innen durch die zeitgenössische armenische Kunst Armenien, eine moderne demokratische Nation zwischen Ost und West, mit seiner komplexen Geschichte besser kennenlernen und etwas von sich selbst in den Narrativen wiedererkennen. Denn heute, sagt er, sei es so wichtig wie nie, mit Empathie Brücken zu bauen.

Dabei gehe es nicht um Mitleid. Vielmehr gehe es darum, zu erkennen, dass die Themen des Festivals Themen sind, die die ganze Welt betreffen. Die Kunstwerke sollen dazu beitragen, in einen gegenseitigen Austausch zu treten und kulturellen Differenzen zu überwinden.

© Qantara.de