Taktieren und aussitzen
"Wir verteidigen den demokratisch legitimierten Präsidenten", riefen am Dienstagabend (4.12.) die Fußsoldaten der Muslimbrüder, nachdem sie die Straßen rund um den Präsidentenpalast gewalttätig von ihren politischen Gegnern geräumt hatten.
Was sie unter dieser Verteidigung verstehen, machten sie kurz danach und bis in die späten Nachtstunden deutlich. Wenn immer sie einen ihrer Opponenten habhaft werden konnten, schlugen mehrere Dutzend Männer auf diesen ein, bis er am Boden lag und sich nicht mehr bewegte.
Die Menge rief immer wieder "Verräter" und "Wer hat dich bezahlt?!", bevor sie wieder auf ihre Opfer eintraten. Einer kommt gelaufen und präsentiert einen Geldwechsel-Abschnitt einer Bank, den man bei einem der "Anti-Mursi"-Demonstranten gefunden hatte, als Beweis dafür, dass die angeblich von außen finanziert worden seien.
Oben auf einem Kleinlaster steht ein Prediger und peitscht die Menge an: "Wir alle lieben Ägypten! Gott ist groß! Los, lauft nach vorne und sichert die Straßen ab, lasst sie nicht durch!", ruft er ins Megaphon.
"Verschwörerische Opposition"
"Diese Opposition ist eine Verschwörung", meint Naim Risq, einer der Demonstranten der Muslimbrüder, vollkommen aufgebracht. Wenn Risq nicht den Präsidentenpalast verteidigt, arbeitet er als Beamter im Religionsministerium. "Die anderen Demonstranten sind alle gekauft! Das sind Söldner!", schreit er. Auf die Frage, wie es nun weitergeht in dieser polarisierten Lage, gibt er seine Sicht der Dinge wieder: "Wir sind kein politisch geteiltes Land. Wir sind 95 Prozent – und die anderen vielleicht fünf."
Viele der Demonstranten stammen aus den Armenvierteln oder aus der Umgebung Kairos. "Ich komme aus dem Nildelta. Man hat mich hierhergeschickt und mir gesagt, ich solle warme Kleidung mitbringen, weil ich hier übernachten werde", beschreibt einer von ihnen seinen Auftrag. Auffällig sind die Herren in Anzügen, die die Menge im Hintergrund dirigieren. Einer, der immer wieder Anweisungen gibt, ist Alaa al-Kilani. Er sei einfach ein Bürger, ein Elektroingenieur, sagt er vage und grinst.
Natürlich könne die Opposition ihre Meinung sagen, aber nicht auf diese Art auf der Straße und vor dem Präsidentenpalast, sagt er. Mursi sei – anders als Mubarak – demokratisch gewählt und diese Legitimität müsse auch von der Opposition anerkannt werden. "Wer mit der Urne an die Macht gekommen ist, den kann man nur mit der Urne von der Macht entfernen", argumentiert er. Und was den Verfassungsentwurf angeht, erklärt er, so hätte die Opposition statt ihrer Aktionen auf der Straße, ihre Energie darauf verwenden sollen, die Menschen davon zu überzeugen, in einem Referendum mit 'Nein' zu stimmen."
Noch am nächsten Morgen feierten die Muslimbrüder ihren Sieg vor dem Palast, da verkündete das Gesundheitsministerium die letzten Zahlen: Die nächtliche Auseinandersetzung hatte fünf Tote und 697 Verletzte auf beiden Seiten gefordert.
Am Morgen fuhren Panzer der Präsidentengarde "zum Schutz des Palastes" auf, wie es in einer offiziellen Erklärung hieß. Die Armee selbst blieb weiterhin in den Kasernen. Für den Nachmittag wurde eine Ausgangssperre rund um den Palast ausgerufen. Der Murshid, das Oberhaupt der Muslimbrüder, Muhmmad Badie, rief die Muslimbrüder auf, wieder nach Hause zu gehen. Daraufhin leerten sich die Straßen vor dem Palast binnen kürzester Zeit.
Eskalation aus politischem Kalkül?
Es sind zwei Dinge, die in diesem Zusammenhang Fragen aufwerfen: Warum hat die Präsidentengarde nicht schon in der Nacht Panzer auffahren lassen, um die Straßenkämpfe zu beenden? Und wenn der Murshid seine Anhänger offenbar so kontrollieren kann, trägt er dann nicht die volle Verantwortung für die Eskalation?
Die Opposition hatte für den späten Nachmittag neue Portestmärsche angekündigt – mit der Ausgangssperre rund um den Palast ist der Weg zum ursprünglichen Ziel der Demonstrationen allerdings versperrt. Erwartet wird daher, dass sich die Opposition wieder auf dem Tahrir-Platz versammeln wird.
Im Hintergrund werden unterdessen die politischen Möglichkeiten ausgelotet. Vizepräsident Mahmud Mekki ging mit einem Vorschlag an die Öffentlichkeit, einige der umstrittenen Paragraphen im Verfassungsentwurf bei der ersten Parlamentssitzung zu streichen. Laut Fahrplan soll zwei Monate nach dem in Krafttreten der Verfassung ein Parlament gewählt werden.
Einschränkung der Machtbefugnisse Mursis
Die Opposition hält weiterhin an drei Forderungen fest. Sie verlangt, dass Muris seine Machtbefugnisse wieder einschränkt und der Verfassungsentwurf für ungültig erklärt wird. Stattdessen solle eine neue repräsentativere Verfassungsgebende Versammlung einen neuen Entwurf ausarbeiten. Der Chef der einflussreichen islamischen Al-Azhar-Universität, Scheich Ahmad El-Tayyeb, fordert vom Präsidenten, sein Verfassungsdekret, das seine Entscheidungen nicht gerichtlich anfechtbar macht, einzufrieren und einen nationalen Dialog zu eröffnen.
Mehrere Berater des Präsidenten waren in der Nacht auf den 6.12. ebenso zurückgetreten, wie der Chef des staatlichen Fernsehens, Essam al-Amir – aus Protest, wie dieses Land von Präsident Mursi regiert wird, wie er erklärte. Auch Zaghloul El-Balshi, der Mann, der eigentlich das Verfassungsreferendum organisieren sollte, war noch in der Nacht zurückgetreten.
Am Nachmittag (6.12.) traf sich der Präsident dann mit seinem Kabinett und den Armeechef, um weitere Maßnahmen zur Stabilisierung des Landes zu erörtern. Die könnte allerdings bereits morgen schon wieder in Gefahr sein: Die Muslimbruderschaft hatte für diesen Donnerstag die nächsten Massendemonstration in Kairo angekündigt. Die Opposition dürfte sich wieder auf dem Tahrir-Platz treffen.
Karim El-Gawhary
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de