Spannungsreiche Nachbarschaft

Mitten im Istanbuler Arbeiterviertel Dolapdere ist ein neues Museum für moderne Kunst eröffnet worden. Das Kulturzentrum Arter ist für den kulturellen Schmelztiegel und sozialen Brennpunkt eine Chance wie auch eine Gefahr. Über das Verhältnis von Kunst, Kommerz und Gentrifizierung am Bosporus berichtet Ulrich von Schwerin.

Von Ulrich von Schwerin

Wer die steilen Straßen vom Taksim-Platz hinunter ins Dolapdere-Tal nimmt, kommt an Textilwerkstätten, Tischlerläden und Waschsalons vorbei. Zwischen den Häusern hängt Wäsche zum Trocknen aufgespannt, auf den Straßen spielen Kinder, während alte Frauen vor den Hauseingängen hocken. Auf die Mauern sind kurdische Parolen gesprüht, linke Plakate rufen auf zum Klassenkampf, und in den Ecken sammelt sich der Müll. Doch dann taucht zwischen den heruntergekommenen Wohnhäusern ein heller Steinkubus auf, große Glasfenster glitzern in der Sonne.

Der Kontrast zwischen dem neuen Museum Arter und den umliegenden Vierteln Dolapdere und Tarlabaşı könnte schärfer kaum sein. Keine zehn Minuten entfernt vom Taksim-Platz und der Istiklal-Straße, der prächtigen Ausgeh- und Einkaufsstraße von Istanbul, sind die beiden Viertel ein kultureller Schmelztiegel und sozialer Brennpunkt. Hier leben Studenten und Müllsammler, Künstler und Prostituierte, kurdische Flüchtlinge, afrikanische Migranten und Roma.

Und mitten da drin steht nun das neue Kunstmuseum der Vehbi Koç-Stiftung, einem der größten Kulturförderer der Türkei. Gebaut von den Grimshaw Architects in London, die auch den neuen Istanbuler Flughafen entworfen haben, ist es ein imposanter und eleganter Bau. Die Fassade des Kubus besteht aus durchlässigen, geometrischen Elementen, deren Farbe sich je nach Licht verändert und die in den Innenräumen filigrane Schattenmuster auf die Böden werfen.

"Die Nachbarschaft liebt uns"

Blick auf das Istanbuler Armen- und Arbeiterviertel Dolapdere; Foto: Ulrich von Schwerin
Der Kontrast zwischen dem neuen Museum Arter und den umliegenden Vierteln Dolapdere und Tarlabaşı könnte schärfer kaum sein. Keine zehn Minuten entfernt vom Taksim-Platz und der Istiklal-Straße, der prächtigen Ausgeh- und Einkaufsstraße von Istanbul, sind die beiden Viertel ein kultureller Schmelztiegel und sozialer Brennpunkt. Hier leben Studenten und Müllsammler, Künstler und Prostituierte, kurdische Flüchtlinge, afrikanische Migranten und Roma.

"Das neue Gebäude ist sehr transparent und einladend", freute sich der Gründungsdirektor Melih Fereli bei der Eröffnung des Gebäudes. "Wir werden das Interesse an zeitgenössischer Kunst erneuern und sie zugänglich machen." Vor den Bauarbeiten hätten sie mehrere Umfragen im Viertel gemacht, nun seien diverse Programme für die Kinder des Viertels geplant. Für Anwohner sei der Eintritt kostenlos. "Die Nachbarschaft hat uns umarmt und liebt uns", versichert Fereli.

Mit sechs Galerien von unterschiedlicher Höhe und Größe bietet das kürzlich eröffnete Museum Platz für mehrere Wechselausstellungen, während es in dem Auditorium und der Blackbox im Untergeschoss Raum für Konzerte, Tanzperformances und Filmvorführungen gibt. Dazu findet sich im Erdgeschoss ein einladendes Café und eine Buchhandlung. Zweifellos ist das neue Arter eine Bereicherung für das Istanbuler Kulturleben – und doch bleibt ein gewisses Unbehagen.

Das neue Museum sei eine Chance, wie auch eine Gefahr für Dolapdere, glaubt der Istanbuler Sozial- und Wirtschaftshistoriker Orhan Esen, der viel zur Geschichte des Viertels gearbeitet hat. Dolapdere sei "nicht einfach irgendein Armenviertel", sondern habe "ein extrem hohes geistiges Kapital" mit vielen Künstlern und Kunststudenten. "Für manche wird es keinen Platz mehr geben, für andere fängt die Zukunft erst an. So ist es bei jeder Gentrifizierung", sagt Esen.

Verbindung von Kunst und Gentrifizierung

Seit der Eröffnung des Guggenheim-Museums in Nordspanien steht der Bilbao-Effekt für die stimulierende Wirkung von Kulturinstitutionen auf die Stadtentwicklung. Neue Museen können das Image einer Stadt verändern, die Kulturszene beleben, neue Besucher anziehen. Allerdings kann dies auch die Immobilienpreise in die Höhe treiben und zur Verdrängung sozial Schwacher führen. Gerade in Istanbul erscheinen Kunst und Gentrifizierung oft eng verbunden.

Zeitgleich mit dem Arter wurde zur diesjährigen Istanbul Biennale am alten Hafen von Galata das neue Museum der Mimar Sinan Kunsthochschule eingeweiht. Daneben wird nach einem Entwurf von Renzo Piano derzeit der Neubau des Istanbul Modern errichtet, das in den 1990er Jahren die moderne Kunst an den Bosporus holte. Beide Häuser sind Teil des Galata-Port-Projekts, das mit einem Kreuzfahrtterminal und Luxushotels dem Tourismus neuen Schwung geben soll.

Im Finanzdistrikt Maslak wurde zudem Anfang des Jahres in einer früheren Likörfabrik die Pelivneli-Galerie eingeweiht. Einst umgeben von Obsthainen steht der weiße 1930er-Jahre-Bau heute im Schatten eines glitzernden Hochhauskomplexes. Das Nebeneinander des alten Fabrikgebäudes und der ultramodernen Glas-und-Stahl-Giganten ist so faszinierend wie spannungsreich, zeigt aber auch überdeutlich die enge Verbindung von Kunst, Kommerz und Kapitalismus.

Blick ins Kulturzentrum Arter; Foto: Ulrich voon Schwerin
Wenn Kunst und Gentrifizierung Hand in Hand gehen: Neue Museen, wie das Kulturzentrum Arter, können zwar das Image einer Stadt verändern, die Kulturszene beleben und neue Besucher anziehen. Allerdings kann dies auch die Immobilienpreise in die Höhe treiben und zur Verdrängung sozial Schwacher führen. "Der Raum für Abgehängte wird knapper werden“, wie der Historiker Esen meint.

Ganz zufällig ist das wohl nicht, denn fast alle großen Kunstmuseen in der Türkei werden von privaten Stiftungen finanziert. Koç, Sabancı, Garanti, Eczacıbaşı – alle alten Konzerne haben ihre eigenen Kulturzentren. Viele ihrer Ausstellungen, Konzerte und Festivals sind erstklassig, doch das Sponsoring durch die Konzerne ist nicht unumstritten. Besonders das Engagement von Koç bei der Biennale sorgt wegen dessen Tätigkeit im Rüstungsbereich immer wieder für Kritik.

Explosive soziale und kulturelle Mischung

Den Standort des neuen Arter in Dolapdere und Tarlabaşı will die Koç-Stiftung als Chance zum kulturellen Austausch und sozialen Engagement verstanden wissen. Jamie Pearson von den Grimshaw Architects sagt, der starke Kontrast des Stein-und-Glas-Kubus zu seinem Umfeld sei intendiert. "Dieses Ding hierher zu setzen, war wie einen Kieselstein in die Nachbarschaft zu werfen und zu beobachten, wie die Wellen diesen Ort verändern", sagt der Architekt.

Gründungsdirektor Fereli ist sich bewusst, dass das neue Museum die Mieten und Immobilienpreise in der Nachbarschaft in die Höhe treibt. Doch die Nachbarn freuten sich über die Entwicklung, sagt er. Früher seien die Leute weggezogen, sobald sie es sich leisten konnten, doch nun sagten sie, dass sie bleiben wollten, sagt Fereli. Nur müsse nun verhindert werden, dass "rücksichtslose Immobilienentwickler" kämen und in der Nachbarschaft Hochhäuser errichteten.

Gerade Tarlabaşı hat bereits leidvolle Erfahrungen mit Gentrifizierung gemacht. Die AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdoğan hat seit 2006 gegen große Widerstände ein umstrittenes Stadtentwicklungsprojekt durchgedrückt. Dazu wurden hunderte Häuser abgerissen, um nun in historisierender Form als Büros und Wohnungen für die Mittelschicht wiederaufgebaut zu werden. Heute sind nur einige Kirchen und alte Fassaden von dem geschichtsreichen Viertel geblieben.

Kaum ein anderer Stadtteil Istanbuls habe in den letzten Jahren so viel Aufmerksamkeit in Medien, Wissenschaft und Kunstwelt gefunden, sagt der Historiker Esen. Mit seiner explosiven sozialen und kulturellen Mischung sei das Viertel "arm aber sexy". Die großen Kunstinstitutionen würden nun die Geschichte des Viertels "auszubeuten" versuchen. "Der Raum für Abgehängte wird knapper werden", glaubt Esen. Am Ende werde das Bild aber wohl weder schwarz noch weiß sein.

Ulrich von Schwerin

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