Zwischen Zensur und zaghaftem Wandel
Ein schiitischer irakischer Autor, gekleidet als britischer Gentleman, wandert zwischen den Buchständen einher. Er hat am Vorabend ein neues Buch vorgestellt. Seine Werke kritisieren religiösen Fanatismus und verweisen auf die rationalen Wurzeln des Islam. Allenthalben wird er von Anhängern angehalten. Sie stellen ihm Fragen oder preisen seine Werke.
Ungewöhnlich ist nur, dass diese Szene sich ausgerechnet in der saudischen Hauptstadt Riad abspielt. Dort gelten Schiiten gemeinhin als potenzielle Gefährdung, eine strenge sunnitische Rechtsschule ist die offizielle Doktrin.
Die internationale Buchmesse von Riad ist ein alljährlich im März stattfindender kultureller Höhepunkt im sonst eher öden saudischen Kulturleben. Ähnlich eintönig erschien auch die saudische Innenpolitik des letzten Jahres: Während andere Araber mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen den Aufstand probten, gelang es Internetaktivisten nicht, eine saudische Protestbewegung zu initiieren.
Der Staat reagierte mit dem Verbot von Demonstrationen als "unislamisch". Truppen marschierten auf. Außer Einzelaktionen und kleinen Demonstrationen der Schiiten in der Ostprovinz blieb das Land ruhig. Parallel kündigte der König umfangreiche Sozial- und Wohnungsbauprogramme sowie die Einrichtung einer neuen Antikorruptionsbehörde an. Damit wollte er insbesondere die Jugend besänftigen.
Noch immer streng getrennt
Die Buchmesse findet in einem großen Ausstellungszentrum am Stadtrand statt. Morgens kommen vor allem Schulklassen, tagsüber sieht man viele Frauen und Familien, abends besuchen vor allem Männer den Ort. Dieses Jahr gab es erstmalig keine getrennten Besuchszeiten für Männer und Familien. Dies ist in Saudi-Arabien immer noch ungewöhnlich: Trotz der allmählichen Aufweichung der Geschlechtertrennung studieren die meisten Männer und Frauen auf getrennten Campussen, verwenden separate Bankschalter und sollten, wenn überhaupt, nur in Familiengruppen gemischt in der Öffentlichkeit auftreten.
Beim Eintritt muss man eine strenge Sicherheitskontrolle passieren. Private Kameras sind verboten, während im Innenraum improvisierte Fernsehstudios Interviews mit Autoren filmen. Kamerateams und Journalisten dokumentieren die insgesamt mehr als eine Million Besucher, die sich in den zehn Tagen um die Buchstände drängelten oder zu den Diskussionsveranstaltungen eilten. Hier herrscht Aufbruchstimmung.
Zahlreiche im Ausland produzierte Publikationen über den Arabischen Frühling erweisen sich als Verkaufsschlager. Neben ersten Studien über die Ereignisse findet sich vielfältige Propaganda islamistischer Kreise, gerade nach den Wahlerfolgen religiöser Parteien in Tunesien und Ägypten.
Überraschend war dieses Jahr, dass viele Verlage Bücher anboten, in denen es um die Herausforderungen des Arabischen Frühlings für das Gastland ging. Diese Stände waren von Menschentrauben umlagert. Der Autor des Buches "Das arabische Erdbeben! Saudi-Arabien und der Golf" etwa zeigt sich prinzipiell königstreu. Unter Rekurs auf Petitionen, die eine konstitutionelle Monarchie forderten, betont er jedoch die dringende Notwendigkeit des politischen Wandels.
Zunehmende Tabubrüche
Andere Autoren thematisieren die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen religiösen und liberalen Strömungen um die Inhalte und Formen dieses Wandels. Daneben gab es kritische Studien, etwa über die Auswirkungen des Städtebaus auf die Gesellschaft.
Noch vor zwei Jahren wurde die Buchmesse für ihr Angebot an harmlosen Koch- und Glaubensbüchern verspottet. Eine Umfrage unter deren vermeintlichen Leserinnen ergab dieses Jahr: Frauen suchten sozialkritische Romane, die zunehmend Tabubrüche wagen, sie kauften Studien über soziale und politische Fragen. Erst danach wandten sie sich religiösen Ratgebern zu, auf der Suche nach Orientierung im komplizierter werdenden Alltag.
Frauen folgten Vortragsveranstaltungen vom Balkon. So blieb die Geschlechtertrennung gewahrt. Aber sie kamen per Mikrofon zu Wort. Zu den Themen gehörte die Rolle sozialer Netzwerke für die Gestaltung der öffentlichen Meinung, oder auch das Verhältnis von guter Herrschaft und Zivilgesellschaft.
Im vergangenen Jahr war der Kulturminister von selbsternannten, zumeist jugendlichen Sittenwächtern wegen des Verkaufs liberaler und kritischer Literatur angegriffen worden. Im Februar 2012 hatten sie bei dem kurz vor der Buchmesse abgehaltenen Kulturfestival "Janadriyyah" die Sicherheitskräfte attackiert, um gegen Musik- und Tanzdarbietungen zu protestieren. Auf die deutlichen öffentlichen Verwarnungen reagierten islamistische Kreise nun mit einem Aufruf zum Boykott der Buchmesse, Störversuche gab es nicht mehr.
Buchmesse als liberales Aushängeschild
Diese Auseinandersetzung hob das Image der sonst oft geschmähten Religionspolizei. Sie hielt sich an die im Vorfeld publizierten Regeln: Unliebsame Publikationen durften nicht konfisziert werden. Man konnte gegen sie beim Kulturministerium Beschwerde einlegen, einige Werke wurden so im Laufe der Buchmesse verboten. Mehr ausländische Verlage als in den vergangenen Jahren boten Bücher an, die sonst nicht in Saudi-Arabien erhältlich sind. Dennoch gab es schon im Vorfeld Zensur. Syrische Anbieter waren aus politischen Gründen gar nicht erst eingeladen.
Im vergangenen März hatte in Saudi-Arabien Verunsicherung geherrscht. Nun sprachen Autoren und Journalisten offen gesellschaftliche und politische Probleme an. Das zeigte sich auch jenseits der Messe. Ein Beispiel waren mehrtägige Proteste einer Frauenuniversität. Die Demonstrationen wurden zerschlagen, jedoch empfing der Gouverneur eine Abordnung der Protestierenden.
Diese Eindrücke können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Buchmesse ein liberales Aushängeschild Saudi-Arabiens ist. Damit verkörpert sie bestenfalls einen von vielen Trends innerhalb der weiterhin autoritär regierenden Monarchie. Die wenigsten jener, die Veränderungen wünschen, setzen auf revolutionären Wandel. Im Gegenteil, viele sehen in den Ereignissen in Libyen und Syrien eine Warnung vor radikalen Schritten.
Einigkeit herrscht über die Notwendigkeit, die Korruption zu bekämpfen und den Ölreichtum gerechter zu verteilen. Viele wünschen auch eine breitere Beteiligung des Volkes am politischen Prozess. Dennoch bleibt die Art der erhofften Gesellschaftsordnung stark umstritten.
Immerhin findet jetzt die Auseinandersetzung darüber, welcher Wandel wie angestrebt wird, auch jenseits der sozialen Netzwerke einen Raum findet: in einigen wenigen Salons, alternativen Kaffeehäusern und nun auch auf der Buchmesse von Riad.
Ulrike Freitag
© Qantara.de 2012
Ulrike Freitag ist seit 2002 Direktorin des Zentrums Moderner Orient in Berlin und Inhaberin einer Sonderprofessur am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität -Berlin.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de